Proteste gegen Regierung in Nicaragua: Taktischer Rückzug
Nach massiven Protesten nimmt Präsident Daniel Ortega die Erhöhung der Sozialbeiträge zurück. Doch seine Machtbasis schwindet mehr und mehr.
Die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge in Nicaragua wird zurückgenommen. Flankiert von Unternehmern und potentiellen Investoren aus drei Kontinenten trat Präsident Daniel Ortega am Sonntag in einer Fernsehansprache einen taktischen Rückzug an. Die brutale Niederschlagung von anfangs friedlichen Protesten gegen eine vom Internationalen Währungsfonds angeregte Reform hatte bis dahin mindestens 26 Todesopfer gefordert. Darunter ein Polizist und ein Journalist.
Es sei das Sozialversicherungsinstitut INSS gewesen, das die für 1. Juli geplante Beitragserhöhung annulliert habe, sagte Ortega. Man müsse jetzt eine Lösung finden, die es den Unternehmen erlaube, „die Beschäftigung zu sichern und eine nachhaltige Absicherung für die Arbeiter zu erreichen“.
Nicaragua hat sich in den letzten Jahren erfolgreich als Insel der Ruhe und Sicherheit in der von Gewalt und Drogenhandel geplagten zentralamerikanischen Region positioniert. Dieser Ruf steht angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Spiel. Darunter würden auch dringend benötigte Investitionen leiden. Denn die Subventionen der nicaraguanischen Wirtschaft durch billige Öllieferungen aus Venezuela sind zu Ende.
Ortega gab sich versöhnlicher als noch am Vortag. Proteste gegen soziale Einschnitte gebe es in vielen Ländern. Gewalt, Plünderungen und Brandstiftungen seien jedoch nicht hinnehmbar. Dass die Gewalt erst von regierungsfreundlichen Schlägertrupps angeheizt wurde und die Polizei mit scharfer Munition ein Blutbad angerichtet hatte, blieb unerwähnt. Die Polytechnische Universität, wo demonstrierende Studenten Zuflucht gesucht hatten, wurde drei Tage von der Polizei belagert – auch das kein Thema für den Präsidenten. Ortega lud stattdessen zu einem noch nicht näher konkretisierten Dialog unter Beteiligung der Unternehmer und der Bischofskonferenz ein.
Wahlbetrug und Einengung demokratischer Freiräume
Dass die Proteste damit beigelegt sind, ist indes nicht zu erwarten. Vielmehr haben Demonstranten, die in fast allen Landesteilen mit der blau-weiß-blauen Nationalflagge auf die Straße gehen, längst das System Ortega als solches im Visier. „Es geht nicht mehr um das INSS“ ist auf Transparenten zu lesen. „Es geht um die Korruption, den Raub von Rathäusern, Bürgerrechten und Redefreiheit“, heißt es in einem Manifest aus der entlegenen Region Nueva Guinea in Anspielung auf Wahlbetrug und Einengung der demokratischen Freiräume. Dort ist die Bewegung aus dem Widerstand gegen Enteignungen in Zusammenhang mit dem geplanten Kanalbau entstanden.
Der Zorn, der sich in den vergangenen zehn Jahren gegen das Regime und die Familie Ortega angestaut hatte, sei jetzt zum Ausbruch gekommen, schreibt Luis Rocha, ein bekannter Soziologe an der Jesuitenuniversität und zählt einige der Skandale auf: „Die Enthüllung, dass der Präsident des Obersten Wahlrats, Roberto Rivas, luxuriöse Villen in Costa Rica und Spanien besitzt … die Plünderung der Sozialversicherungskasse, die Holzmafia und (illegale) Abholzungen, der Bergbau und selbst der Drogenhandel“. Rocha zitiert den mexikanischen Diktator Porfirio Díaz, der einst einem Volksaufstand weichen musste: „Der Tiger ist los. Wer weiß, ob sie ihn wieder einfangen können.“
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