: Propagandistische Ursache
betr.: „Der kollektive Wahn“, Kommentar von Ulrike Herrmann, taz vom 3. 4. 03
Es ist leider wahr, dass die Gehirnwäsche, die von interessierten Medien seit Anfang der Neunzigerjahre betrieben wird, nun ihre kruden Früchte trägt.
Nicht nur tun die politisch Verantwortlichen immer noch so, als könnte eine „Reform des Arbeitsmarktes“ Arbeit herbeizaubern, die es nicht mehr gibt. Seit mehr als zehn Jahren wird konsequent an den sozial Schwachen gespart und Geld auf die oberen Sprossen der sozialen Leiter umverteilt. Dem Publikum wird dieser Prozess als unumgängliche Notwendigkeit verkauft. Wie man sieht, mit wachsendem Erfolg. Dass große Konzerne in Deutschland Gewinne machen, aber dank vielfältiger Steuergeschenke praktisch keine Steuern mehr zahlen, ist erschreckend vielen Menschen in meiner Umgebung nicht mehr bewusst. Oder nie bewusst gewesen.
Besonders bedrückend finde ich es allerdings, wenn ich höre, wie jene Focus/Financial Times-Parole von den unbeweglichen Gewerkschaften nachgebetet wird, die angeblich inzwischen dabei seien, Beschäftigung zu verhindern. Und nicht etwa von Menschen, die ein verständliches Interesse an der Verbreitung dieser Ansicht haben müssen, sondern von Arbeitnehmern.
Der von Ulrike Herrmann so präzise beschriebene kollektive Wahnsinn hat eine mediale oder besser gesagt propagandistische Ursache. Seit Jahren beobachte ich das Gejammer von BDI, IHK und anderen Interessenverbänden gleicher Couleur, die Sozialabgaben in Deutschland seien zu hoch und das geltende Arbeitsrecht verhindere Beschäftigung. Diese Parolen werden dadurch, dass sie so häufig wiederholt werden, nicht wahrer. Aber dass man sie nun aus dem Munde von Freunden und Kollegen hört, beweist den alten Satz, dass auch eine Lüge irgendwann für Wahrheit genommen wird, wenn sie nur oft genug öffentlich wiederholt wurde.
Es ist erstaunlich, dass sonst ganz erwachsen wirkende Menschen glauben, man könne einen Aufschwung der Wirtschaft und hoffentlich auch des Arbeitsmarktes mit immer mehr Abstrichen am eigenen Einkommen herbeidulden. Die Realität widerspricht dieser These seit Jahren. Auf immer größere Zugeständnisse an die Wirtschaft folgten immer höhere Arbeitslosenzahlen und immer frechere Forderungen der Wirtschaft, doch bitte aus jeder sozialen Verantwortung entlassen zu werden. […] JAN REINARTZ