Projektraumpreis bei der Berlin Art Week: Über die alten Grenzen hinweg
Seit 30 Jahren ist ein ehemaliger DDR-Wachturm in Berlin ein Ort für Kunst. Im Rahmen der Berlin Art Week wird der Projektraum nun ausgezeichnet.
Eigentlich sieht er ziemlich mickrig aus, wenn man mit ein wenig Abstand vor ihm steht. Unscheinbar fast, trotz seiner zehn Meter Höhe. Als in Berlin am Schlesischen Busch noch die Grenze zwischen Ost und West verlief, wurden von dem quadratischen Betonbau aus insgesamt 18 Wachtürme sowie dazugehörige Sicherungsanlagen beaufsichtigt.
Heute führen um ihn herum, auf dem ehemaligen Todesstreifen Alt-Treptower*innen und Kreuzberger*innen ihre Hunde aus. Der Wachturm an der Puschkinallee, gebaut in den späten 1970ern, ist längst Teil der Berliner Stadtlandschaft. Weniger bekannt war bislang selbst unter Spaziergänger*innen, dass der Turm schon seit ziemlich genau 30 Jahren ein Ort ist, an dem Kunst gezeigt und auch produziert wird. Viel länger also, als seine militärische Nutzung überhaupt dauerte.
In diesem Jahr gehört „The Watch“, wie sich die Gruppe nennt, die ihn seit 2016 betreut, zu den zehn im Rahmen der Berlin Art Week ausgezeichneten Projekträumen. Noch bis einschließlich Sonntag kann er besichtigt werden. Die Ausstellungen erzählen von der Geschichte des Ortes und von dem, was Künstler*innen heute mit ihm machen. „The Watch“ lädt nämlich jedes Jahr mehrere Künstler*innen zu Arbeitsaufenthalten in den Turm.
Angefangen hat es dort mit der Kunst schon kurz nach dem Fall der Mauer, im März 1990, als der ostdeutsche Liedermacher Kalle Winkler in den Grenzwachturm einbrach und ihn besetzte. Winkler, der 1981 nach Westberlin ausgebürgert worden war, eine in vielerlei Hinsicht „schillernde Persönlichkeit“ – so beschreibt ihn in Jo Zahn, der gemeinsam mit Chris Gylee und Dominique Hurth „The Watch“ betreibt – installierte schließlich das „Museum der verbotenen Kunst“. Kunst wollte er zeigen, die in der DDR verboten war, aber auch solche, die sonst als „anrüchig“ galt.
Egon Krenz schmeckt nach Malzbier
So kann man es auch in einem Artikel nachlesen, der zur Eröffnung des „Museums“ am 5. September 1990 in dieser Zeitung erschien. „Ein Glas 'Flüchtlingsblut’ im Wachturm“ lautete der Titel des Textes von Susanne Steffen, denn tatsächlich wurde damals zeitgleich auch eine Kneipe eingerichtet, in der die Drinks makabere Titel trugen: Bei „Flüchtlingsblut“ handelte es sich, so notierte Steffen, um Kadarka-Wein, unter „Egon Krenz“ lief Malzbier, „Politischer Häftling“ bezeichnete Leitungswasser.
The Watch, Puschkinallee 55, Berlin. Sonderöffnungszeiten Berlin Art Week: bis 13. 9., 14–18 Uhr. „Gespräche aus dem Inneren des Turms“, am 12. 9. ab 15 Uhr, Mehrzweckhalle, Flutgraben e. V., Am Flutgraben 3. Buchungen über www.berlinartweek.de
Sehr wahrscheinlich liegt der Artikel auch irgendwo abgeheftet in den Pappordnern des frisch eingerichteten ordentlichen Archivs im Inneren des Wachturms. Wer mag, kann hier alles nachlesen, -hören und ansehen, was Zeitzeug*innen zusammentrugen und was bereits zum Wachturm veröffentlicht wurde, TV-Ausschnitte aus der RBB-„Abendschau“ etwa, wo auch Kalle Winkler zu Wort kommt, oder eine Radiosendung, die „The Watch“ 2019 mit damaligen Gastkünstler*innen bei Cashmere Radio ausstrahlte.
Auch Dokumentationen aller künstlerischen Aktivitäten sind dort zu finden. Nach Winkler und seinen Mitstreiter*innen, die 1992 den Denkmalschutz für den Turm erreichten, kamen andere, Künstler*innen, die dort verschiedene Ausstellungsformate präsentierten, oftmals in Bezug auf die DDR-Geschichte des Ortes.
Stundenlang könnte man sich mit alldem beschäftigen. Möglich ist das leider momentan nicht. Die Zeitfenster, die über die Homepage der Berlin Art Week zu buchen sind, umfassen jeweils nur 30 Minuten, und in den ersten und zweiten Stock sollte man schon auch noch hinaufsteigen.
Belüftung als Kunstprojekt
Zu sehen ist da, wie sich die beiden diesjährigen Gäste, die vor allem mit Performance arbeitende Künstlerin Melanie Jame Wolf und Installationskünstler Max Brück unter dem Thema „Care-Taking“ – bezogen auf die Pflege und Instandhaltung eines Denkmals – mit dem Turm beschäftigten. Filmisch, zeichnerisch, mit Recherchen und im Falle von Brück ganz konkret mit einem auf Knopfdruck zu betätigenden Belüftungsmotor.
Ganz oben unterm Turmdach lässt sich dann nachempfinden, wie Wolf und Brück hier arbeiteten. Auf einer wie alle anderen neuen Einbauten und Möbel von raumlabor gestalteten Liegebank sind Bücher verteilt, die Wolf und Brück im Turm gelesen haben. Ein Video von Jo Zahn, das auf einem Tablet läuft, zeigt Bilder von der Renovierung.
Zu besuchen ist der Turm aus bekannten Gründen aktuell nur alleine. Die meisten der Zeitfenster sind bereits ausgebucht. Weniger limitiert ist der Talk am Samstag am gegenüberliegenden Flutgraben, wo Vertreter*innen aller bisherigen Künstler*innengruppen zusammentreffen. Sichtbarer bleiben soll der Turm aber auch weiterhin. Jeden zweiten Samstag öffnet er die Türen.
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