Profil Piratenpartei: Die liberale Versuchung
Basisdemokratisch, liberal, pragmatisch. Mit ihrem Erfolg im Saarland rütteln die Piraten am Selbstverständnis etablierter Parteien.
BERLIN taz | Seinen wichtigsten Satz drückte Daniel Bahr am Montag in weniger als 140 Zeichen aus: „Ich rate uns allen, jetzt die Nerven zu bewahren.“ Das war die Aussage des Bundesgesundheitsministers im Kabinett Merkel. Als Landeschef der FDP in Nordrhein-Westfalen dürfte für ihn bei der Landtagswahl bald eine Zitterpartei anstehen.
Auch ein Mann mit etwas anderer Statur verkündete am Montag seine Botschaft im twitterttauglichen Kurzformat: „Wir sind die neuen Liberalen.“ Sein Name ist Andreas Augustin, und seit der 31-jährige Pirat am Wochenende in den saarländischen Landtag eingezogen ist, herrscht wieder Aufregung in der deutschen Parteienlandschaft.
Der Mann mit langem Haarzopf, Zickenbärtchen und dem gesetzten Habitus eines Systemadministrators ist einer, der nachts um 4 Uhr auf E-Mails antwortet und früher gerne Killerspiele zockte. Ein „Politiker aus Notwehr“, wie er sich nennt. „Die FDP“, sagt er, „ist nicht mehr liberal. Die muss aus allen Parlamenten raus. Und wir müssen in alle Parlamente rein.“
Hofierte Neulinge
Es ist eine deutliche Kampfansage. Und fast scheint es, als könne sie Substanz entfalten. Nach ihrem Erfolg bei den Landtagswahlen im Saarland mangelte es der Piratenpartei am Montag nicht an Ehrbekundungen von etablierter Seite.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe räumte ein, die CDU müsse von den Piraten lernen. Und die Bundesspitze der SPD bot den Piraten gar Gespräche an. „Bedauerlicherweise“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, seien die Piraten „bei der nächsten Bundestagswahl noch kein ernsthafter Regierungspartner für die SPD“.
Deutlicher geht es wohl kaum: Auf der bundespolitischen Bühne werden die Piraten seit Sonntag ernst genommen. Aber drängt mit ihnen wirklich eine Partei auf die politische Bühne, die in der Lage ist, die einstmals große FDP abzulösen?
Kernklientel der FDP
Die Schnittmengen, natürlich, sie sind deutlich. Wie deutlich, das zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen. Der 54-jährige Joachim Paul, seit dem Wochenende der neue Spitzenkandidat der Piraten im Landtagswahlkampf, ist Beamter, ein gutbürgerlicher. Sein Parteisprecher, Achim Müller, lebt im Münsterland in einem Einfamilienhaus, seine Frau ist Apothekerin.
Das klingt nach dem, was einmal die Kernklientel jener FDP war, die in Umfragen seit Monaten unter der 5-Prozent-Hürde liegt. Und wenn der Bundesvorsitzende der Piraten, Sebastian Nerz, auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen blickt, dann macht ihm besonders eines zu schaffen: dass der starke FDP-Mann Christian Lindner den Piraten noch Wählerstimmen nehmen könnte. Und doch ist das eine nicht das andere.
„Die Piraten sind vor allem eine inhaltliche und personelle Bereicherung für das rot-grüne Milieu“, sagt der Berliner Parteienforscher Gero Neugebauer. „Gerade im linksliberalen Spektrum wirft die Partei viele politische Fragen neu auf.“
Wer verstehen will, für welchen Liberalismus die Piratenpartei steht, muss Mareike Peter treffen. Sie ist Piratin aus Überzeugung. Und alles andere als FDP. Die 23-Jährige trägt dunkle Rastazöpfe, ihre Kleidung ist mit Annähern, ihr Laptop mit Aufklebern übersät. Als @Carridwen verfolgte sie die Saarland-Wahl über Twitter.
Im Berliner Abgeordnetenhaus arbeitet sie derzeit der ersten Generation von Parlamentspiraten zu: Das sind diejenigen, die im September 2011 für Aufsehen sorgten, als gleich 15 von ihnen ins Berliner Landesparlament einzogen. Die einen kamen im Sakko, die anderen kamen in Latzhose.
Emanzipatives Potenzial
Früher sympathisierte Mareike Peter mit den Grünen und der Linkspartei. Und auch heute noch sitzt sie in Berlin am liebsten unter linken Aktivisten und diskutiert. Von „Netzneutralität“ und „Plattformneutralität“ erzählt sie dann, und irgendwann kommt sie auf den öffentlichen Nahverkehr zu sprechen. Es ist ein interessanter Denkschritt, den die junge Frau dort unternimmt. Wer ihn versteht, versteht auch das radikale, emanzipative Potenzial dieser Partei.
„Viele von uns sind damit aufgewachsen, dass wir im Netz ohne Grenzen sozialisiert wurden“, sagt Peter. „Wir wollen diese Erfahrung jetzt konsequent auf viele andere Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen. Wieso soll es im Netz keine Grenzen geben, aber im öffentlichen Nahverkehr dagegen schon?“ Die Antwort darauf, sagt sie, sei, „dass die Infrastruktur von Bus und Bahn für alle kostenfrei zugänglich sein muss“.
Netzneutralität, Plattformneutralität, Umsonstfahren: Es ist eine solche Gedankenkette, die erklärt, wie die Piraten aus der Netzdebatte nun langsam Politikmodelle für die Offlinewelt ableiten.
Keine Sozialrevolutionäre
Programmatisch führt das auf eine Spur, deren Inhalte an klassisch linken Projekten anknüpfen: In ihrem 24-seitigen Grundsatzprogramm, das zur Hälfte aus Bürgerrechts- und Netzthemen, zur anderen Hälfte aus verschiedenen gesellschaftspolitischen Grobentwürfen besteht, ist festgehalten, dass die Partei „Bildungsgebühren jeglicher Art kategorisch ablehnt“, dass sie die Trennung von Staat und Kirche fordert, dass sie sich gegen das Ehegattensplitting und den „Zwang zu geschlechtseindeutigen Vornamen“ positioniert.
Festgeschrieben ist dort auch: das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wie es ausgestattet sein soll, wird von den Landesverbänden unterschiedlich beantwortet. In Schleswig-Holstein wirbt die Partei nun mit einem Modell, das fragen lässt, wie sozial die Partei es wirklich meint.
Das ist der neue Liberalismus der Piraten. „Sozialrevolutionäre“, sagt der Parteienforscher Gero Neugebauer aus Berlin, „sind das nun wirklich nicht.“ Und Andreas Augustin, einer der neuen Abgeordneten der Piraten im saarländischen Landtag, sagt: „Der Marktliberalismus ist tot. Wir sind die Gesellschaftsliberalen.“
Mitarbeit: Timo Reuter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Ineffizienter Sozialstaat
Geteilte Zuständigkeiten
Gesetzentwurf aus dem Justizministerium
Fußfessel für prügelnde Männer
Europarat beschließt neuen Schutzstatus
Harte Zeiten für den Wolf