: Profession: Politiker
Zu Lebzeiten wurde Gustav Stresemann entweder verehrt oder gehasst. Jonathan Wright hat jetzt eine scharfsinnige Biografie geschrieben
von PAUL NOLTE
Eine Stresemannstraße gibt es nicht nur in der Mitte Berlins, sondern in beinahe jeder größeren deutschen Stadt. Aber der Name Gustav Stresemanns, des langjährigen Außenministers der Weimarer Republik, dürfte die meisten inzwischen kalt lassen. Früher weckte er heiße Emotionen: Gefühle der politischen Gegnerschaft, ja des Hasses gegen den „Erfüllungspolitiker“, der nach dem Ersten Weltkrieg die nationalen Interessen Deutschlands dem Ausgleich mit den Alliierten geopfert habe; später dann, vor allem in der frühen Zeit der Bundesrepublik, Gefühle der Verehrung für den Vorkämpfer der europäischen Integration.
Der komplizierte, zwiespältige Charakter des Politikers Stresemann bündelt sich in dem auf ihn gemünzten Begriff des „Vernunftrepublikaners“: Eigentlich gehörten seine Sympathien, sein politisches Herz dem kaiserlichen Reich, aber aus Vernunft und „mit dem Kopf“ entschied er sich für die loyale Unterstützung der Republik von Weimar.
Nach einer Phase des schwindenden Interesses hat nun seit einiger Zeit eine wahre Renaissance der Stresemann-Biografien in der Wissenschaft eingesetzt. Dabei schält sich so etwas wie ein neuer Konsens heraus, der von Verherrlichung und Verdammung gleich weit entfernt ist und ein nüchternes, gleichwohl von grundsätzlicher Sympathie getragenes Bild des Führers der nationalliberalen Deutschen Volkspartei entwirft. Auf dieser Linie liegt auch die umfangreiche, auf langjährigem Quellenstudium beruhende Biografie des Oxforder Historikers Jonathan Wright. Sie ist – einstweilen nur in englischer Sprache erhältlich – wissenschaftlich souverän und doch gut lesbar.
Wo kommt so ein Mann her, was hat ihn geprägt, und was treibt ihn an? Wright will ausdrücklich eine „politische Biografie“ vorlegen, deren Schwerpunkt deshalb auf der kurzen Kanzlerschaft Stresemanns im Krisenjahr 1923 und auf den nachfolgenden sechs Außenministerjahren bis zum frühen Tod des erst 51-Jährigen im Oktober 1929 liegt. Sehr gerafft behandelt er die Herkunft und den politischen Aufstieg: 1878 als Sohn eines Berliner Bierhändlers in bescheidenen, aber stabilen Verhältnissen geboren, pflegt Stresemann zunächst literarisch-historische und journalistische Interessen; sehr früh und dann immer wieder wird er als ein im Grunde einsamer, auf sich selber bezogener Mensch beschrieben, der einen ungeheuren und dennoch stets kalt disziplinierten Ehrgeiz entwickelte. Die Unsicherheit des sozialen Aufsteigers auf dem von Adel und Großbürgertum bestimmten Berliner Parkett legt er nie ganz ab. Doch nach seiner schnellen Promotion beginnt er eine kometenhafte Karriere im Dienste industrieller Interessenverbände: Er ist der junge akademische Experte, der auf neuartige Weise „Politik als Beruf“ (Max Weber) betreibt.
Nicht zufällig begleitet Stresemann deshalb, teilweise bis heute, der Ruf eines opportunistischen, an Macht statt an Ideen orientierten Politikers. Jonathan Wright sieht das anders. Schon als junger Mann habe Gustav Stresemann eine dezidiert liberale Weltsicht entwickelt, die – dem Vorbild des Theologen und Politikers Friedrich Naumann folgend – nationale, ja imperiale Stärke nach außen mit Reformbereitschaft und sozialen Interessen im Innern verknüpfte. Diese Grundlinie passte er den gewandelten Umständen nach dem verlorenen Krieg und den jeweiligen Erfordernissen politischer Entscheidungen geschickt an, ohne ihr jedoch untreu zu werden.
Auch wenn sich der betriebsame Hektiker anscheinend durch Charakterzüge wie seine Eitelkeit und seine Selbststilisierung Feinde machte: Im Kern trieb ihn eine tiefe Sehnsucht nach Ausgleich und Kompromiss, nach dem befriedenden Brückenschlag zwischen den verfeindeten politischen Lagern an. Als einer von ganz wenigen Politikern der Zwanzigerjahre konnte er überzeugend für eine Verbindung von „rechts“ und „links“ stehen und trug damit entscheidend zur Stabilisierung der Weimarer Republik in ihrer Existenzkrise von Inflation und Bürgerkrieg 1923/24 bei.
1923 ist deshalb das Achsenjahr in der Biograpfie von Jonathan Wright. Stresemann, der trotz seiner Prominenz bis dahin kein Regierungsamt bekleidet hatte, sondern vor allem Interessenpolitiker und Parteiführer war, sah als Reichskanzler einer großen Koalition nicht nur seinen eigenen Ehrgeiz einstweilen befriedigt. Er wurde auch fähig, staatspolitische Verantwortung zu tragen, vor der seine Zeitgenossen sich häufig drückten. In den Locarnoverträgen erreichte er einen Ausgleich mit den Westmächten; er führte das Deutsche Reich in den Völkerbund und erhielt 1926, gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand, den Friedensnobelpreis.
Der internationalen Anerkennung entsprach jedoch keine weitere Öffnung und Entspannung in Deutschland selbst: Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten als Nachfolger des Sozialdemokraten Friedrich Ebert, zu dem Stresemann ein ausgesprochen gutes Verhältnis hatte, markierte einen erneuten Rechtsruck. Stresemann behauptete sich immer wieder gegen den rechten, nationalen, monarchistischen Flügel seiner eigenen Partei, aber statt einer weiteren Annäherung an die SPD betrieb er zunehmend eine Annäherung an die konservativen Deutschnationalen, die ihm auch von Historikern häufig vorgeworfen worden ist.
Der Tod Gustav Stresemanns, nur drei Wochen vor dem Schwarzen Freitag der New Yorker Börse und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, beendete symbolträchtig die Phase relativer politischer Stabilität der ersten deutschen Republik. Gerne wird darüber spekuliert, welche Rolle Stresemann – der sogar zwei Jahre jünger als Konrad Adenauer war – in der Staatskrise zwischen 1930 und 1933 hätte spielen können; ob er gar zum Antipoden Hitlers oder zur Alternative zu diesem hätte werden können. Vielleicht würde seine Stärke damit überschätzt; wahrscheinlich ist dies auch gar nicht die entscheidende Frage. Für Wright stand Stresemann am Ende seines Lebens nicht zuletzt „für die Werte von Anstand und Toleranz im öffentlichen Leben Deutschlands“. Mit allen seinen Widersprüchen und persönlichen Eitelkeiten lebte er den Typus eines Bürgers vor, der auf Verständigung statt Radikalisierung bedacht war, auf den Kompromiss statt auf die doktrinäre Festlegung. Auch deshalb ist Jonathan Wrights Buch eine lehrreiche Lektüre.
Tatsächlich vermittelt die Darstellung, so scharfsinnig sie im Einzelnen ist, im Ganzen ein etwas weich gezeichnetes, abgemildertes Bild nicht nur Stresemanns und der DVP, sondern auch der Krisen der Weimarer Republik. Die inneren Widersprüche dieses Politikers, der bei Wright fast wie ein demokratischer Liberaler späterer Jahrzehnte erscheint, auch: seine Defizite und seine Fehler hätten an manchen Stellen durchaus klarer benannt werden können.
Jonathan Wright: „Gustav Stresemann. Weimar’s Greatest Statesman“, XVII, 569 Seiten, Oxford University Press, Oxford 2002, ca. 40 € ($ 39,95)