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"Pro Reli"-Initiative in BerlinWerte für alle

Sabine am Orde
Kommentar von Sabine am Orde

Die BerlinerInnen sollten den Ethikunterricht als Pflichtfach für alle retten. Er ist Basis für einen Austausch, den die Stadt braucht, der das Wissen über einander vergrößert und das Verständnis füreinander stärkt.

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Sabine am Orde
Innenpolitik
Jahrgang 1966, Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Seit 1998 bei der taz - in der Berlin-Redaktion, im Inland, in der Chefredaktion, jetzt als innenpolitische Korrespondentin. Inhaltliche Schwerpunkte: Union und Kanzleramt, Rechtspopulismus und die AfD, Islamismus, Terrorismus und Innere Sicherheit, Migration und Flüchtlingspolitik.

9 Kommentare

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  • PD
    Prof. Dr. Reinhard Zöllner

    Jeden mit jeder über alles reden zu lassen, wie "Norbert" meint, ist ganz sicher nicht das Ziel des Berliner Ethikunterrichts. Im Zentrum steht, jedenfalls laut Rahmenlehrplan, "die Frage: 'Was ist ein gutes Leben und wie kann man es führen?'" Das ist eine ganz große Frage, mit der -- wie ich finde -- ein einzelnes Fach ohnehin überfordert wird. In Deutsch, Geschichte, Fremdsprachen, Biologie, Geografie, Sozialkunde und Politischer Weltkunde sollte diese Frage eigentlich ständig thematisiert werden. Dass sie in ein eigenes Schulfach abgeschoben wird, ist das Eingeständnis eines didaktischen Versagens auf breiter Front. Würden die anderen Fächer ihre Arbeit anständig erledigen, hätte sich die ganze Diskussion schon längst erledigt.

    Natürlich sind Religionen nicht neutral in der Vermittlung von Werten, denn sie haben sich ja für eine ganz bestimmte Sicht auf die Welt entschieden. Aber das ist dann auch klar und eindeutig zu erkennen. Wer evangelischen, katholischen, jüdischen oder islamischen Religionsunterricht besucht, erwartet ja wohl auch nichts anderes. In allen anderen Bundesländern außer Berlin und Bremen funktioniert es übrigens trotzdem wunderbar, dass die Schüler einander dennoch nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, sondern im Schulalltag einander tolerant und respektvoll begegnen. Das Argument, dass Toleranz und Respekt vor Andersgläubigen nur durch einen eigenen Ethikunterricht gelernt werden können, ist schlichter Unfug. In Hamburg, Frankfurt und Köln funktioniert es doch auch.

    Was Böckenförde wirklich meinte, ist: Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass es genug Menschen gibt, die bereit sind, anderen zu helfen und sich für Schwächere einzusetzen (was man Altruismus nennt). Solche Menschen aber fallen nicht von den Bäumen. Aus zahlreichen soziologischen Studien ist sattsam bekannt, dass eine solche Einstellung mit individueller Religiosität zusammenhängt. Die Spendenbereitschaft z.B. ist bei Menschen, die eine starke religiöse Bindung (gleich, zu welcher Religion) aufweisen, (nicht nur) in Deutschland am höchsten -- und bei solchen Menschen am niedrigsten, die konfessionslos sind.

    Natürlich kann man auch Werte vermitteln, ohne einer Religion anzuhängen. Die harten empirischen Tatsachen zeigen allerdings, dass die auf diese Weise vermittelten Werte im Durchschnitt eben nicht diejenigen sind, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen. Deshalb -- und nur insoweit -- hat die Förderung derjenigen Religionsgemeinschaften, die solche erwünschten Werte vermitteln, durch den Staat ihre völlige Berechtigung. Mit einem Staatskirchentum hat dies nun wirklich nichts zu tun (obwohl man auch hier einmal überlegen sollte, ob nicht Länder, die wie die skandinavischen noch sehr lange am Staatskirchentum festgehalten haben, nicht zuletzt deshalb heute einen ausgebauten Sozialstaat besitzen).

    Darauf zu verzichten und darauf zu vertrauen, dass sich irgendwie, irgendwann im Gespräch aller mit allen ein passender Ersatz bildet (vor allem zwischen Jugendlichen, die kaum deutsch können und ihrem deutschen Ethik-Lehrer sprachlich hoffnungslos unterlegen sind -- auch ein Fall von systematisch verzerrter Kommunikation!), ist grenzenlos naiv.

    Anders, als "LvM" meint, sind es tatsächlich die Religionen gewesen, die das "Gewissen" erfunden haben. In seiner heutigen Bedeutung stammt der Begriff von Martin Luther. In anderen Sprachen, z.B. Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch, hat es dafür vor Beginn der christlichen Missionierung gar keinen Ausdruck gegeben. Das heißt ja nicht, dass Chinesen, Japaner oder Koreaner vor dieser Zeit unethisch gehandelt hätten. Aber es ist immer wieder erstaunlich, wie unbedacht Begriffe, die zweifelsfrei einen religiösen Hintergrund haben wie "Gewissen", "Schuld" und "Identität", von Menschen, die sich religionslos nennen, zur Konstruktion ihrer eigenen Ethik herangezogen werden. Wenn wir auf solche Begriffe also ohnehin nicht verzichten wollen (sonst müssten wir uns gleich für einen konsequenten und ethikfreien Atheismus à la Nietzsche aussprechen), sondern unseren Kindern wahrheitsgemäß (auch ein ethischer Wert!) mitteilen wollen, worum es uns geht, dann geht das ohne Religionsunterricht eigentlich gar nicht.

  • N
    Norbert

    Das wichtigste Argument in der ganzen Debatte ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass es gut ist, wenn jeder gezwungen ist, mit jedem über alles zu reden. Mauern und Parallelgesellschaften gibt es genug, man sollte endlich anfangen, sich mit seinen Mitmenschen und deren Überzeugungen direkt und aktiv auseinanderzusetzen. Aus meiner Sicht ist wenig gewonnen, wenn nur Christen, Muslime und Juden jeweils unter sich bleiben und im eigenen Saft schmoren und der Ethikunterricht hauptsächlich von Schüler aus religionsfernen Familien, in denen Religion oftmals aus Unwissenheit und wenig produktiv als Spinnerei abgetan wir, besucht wird.

     

    Ich habe allerding erhebliche Zweifel, ob Religion im Ethikunterricht einen angemessenen Platz eingeräumt bekommt. Auch scheint mir der begriff "Ethik" für dieses Fach sehr eng. "Ethik und Religionen" wäre aus meiner Sicht angemessener.

  • T
    Tes

    In dem Kommentar von Frau SABINE AM ORDE spiegelt sich viel Angst. Schade, dass sie keine Kinder hat und die Sache gern von oben herab geklärt haben will.

    Demokratie wagen, d.. auch einen Volksentscheid wagen un sich dem Ergebnis stellen. Das müssen die Kirchen aber auch die Gegner von Pro-Reli.

    Wir bräuchten hier in Berlin guten Unterricht für unsere Kinder und keine ideologisch verbrämten Mist weiter zu verbraten.

    Leider wurde der Schulversuch Ethik-Religion hier in Berlin nie ausgewertet. Ich bin mir sicher, dass es nach einer Auswertung keinen Zweifel gegeben hätte, diesen Versuch auszuweiten und weiter zu praktizieren. Auch heute noch wird an vielen Schulen eine Kooperation praktiziert, weil es einfach für das Lernen besser ist und v.a. für unsere Kinder.

    Warum immer nur Ideologie, wo es um anderes geht. Komisch, mir scheint, dass die Kirchen hier manchmal viel weiter sind als man denkt auch wenn es vielleicht früher anders war.

  • L
    LvM

    mal eine frage herr zöllner!

     

    wollen sie etwa behaupten, die religiösen abgesandten die einzelnen religiösen verbände dann in die schulen abordnen werden, vermitteln ihre werte neutraler als der ein staat, der sich zwar säkular schimpft, aber in keinster weise ist(siehe christliche grundwerte?), werde gern mal sehen, wie das genau ablaufen soll, ob zum beispiel mal grob gesagt protestanten, katholiken, muslime und andere gemeinschaften gemeinsam arbeiten werden oder jeder getrennt, denn so schafft man keine toleranz, man stelle sich vor ein rabbi und ein iman versuchen einer klasse in wedding toleranz zu vermitteln, in der heutigen zeit, eher auszuschliessen das soetwas funktionieren soll

     

    bedauerlicherweise betrachte ich die religionen die es hier auf der welt gibt als einen der grundpfeiler für konflikte weltweit, wenn sie selbst auch friedlich sind oder sich so darstellen mögen, so werden sie doch von einzelnen zur hetze missbraucht und der grösste teil verhindert soetwas nicht, das trifft auch für christen zu, man sehe mal nach asien, zudem enthalt betreibt keine der religionen eine vernünftige geschichtsaufarbeitung, eher wird diese noch stark verklärt

     

    keine religion hat das gewissen erfunden, das war der mensch selbst

     

    es ist doch wieder einmal schön, das man hier den staat als feind aufführt, obwohl ich das von dieser seite eher weniger erwartet hätte, in bezug auf andere bundesländer wär so ein ausspruch wohl als blasphemie zu betrachten

     

    ist es denn nicht auch so, das abweichler in den etablierten religionen in deutschland mundtot gemacht werden, bzw schnell als sektierer abgestempelt werden, man sich an überholten denken festkrallt? das bezeichnen sie also als freiheit und das ist auch kein zwang zum einheitlichen denken, schönen dank auch!

     

    trotzdem

    mfg

    LvM

  • DS
    Dr.Manfred Spieß

    Liebe taz,

     

    das muss Ihnen ja mächtig weh getanhaben, dass sie berliner jetzt so abgestimmt haben. Sonst würden Sie ja nicht so heftig "bellen".

    Haben Sie sich eigentlich mal den Lehrplan Ethik Berlin genau angeschaut? Religion kommt dort nur marginal vor! Bei den Lehrplanmachern spürt man förmlich eine Angst, sich stärker auf dieses Gebiet zu wagen. Anders kann ich mir das distanzierte Gebaren nich erklären. Scade, dass Sie auch nur in den Kategorien "schwarz" oder "weiß" denken können. Es ist einfach anachronostisch, die Religionen derart an den Rand zu drängen, wie Berlin es seit Jahrzehnten tut. Eine gute Schule braucht mehr! Nehmt die großen Religionen gemeinsam in die pädagogische Verantwortung für die Schule mit hinein. Das müssen sie allerdings auch wollen. - Wäre Letzteres nicht ein Ziel, für das man sich einsetzen sollte?

  • LD
    Lenny D.

    Herr Zöllner, lehren uns nicht gerade Länder wie Saudi-Arabien oder der Iran, die den Islam als Staatsreligion haben, dass vor allem auch die Religion für staatlichen Zwang zum einheitlichen Denken verantwortlich ist und somit der Feind der Freiheit ist?

  • IN
    Irene Nickel

    "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann" - dieser Satz von Ernst Böckenförde bedeutet: Der Staat lebt davon, dass seine Bürger sich bestimmten Werten und bestimmten Grundsätzen verpflichtet fühlen. Jedoch die Behauptung, dass das religiös begründete Werte und Grundsätze sein müssten, ist erstens Unsinn, und zweitens ist es anmaßend gegenüber nichtreligiösen Menschen, wie Sabine am Orde zutreffend feststellt.

     

    Werte werden nicht durch "Letztbegründungen" vermittelt, sondern vor allem dadurch, dass sie praktiziert und vorgelebt werden und dass junge Menschen dadurch erfahren, wie wichtig diese Werte sind. Das ist die sicherste Grundlage dafür, dass sich die Bereitschaft entwickeln kann, zur Erhaltung dieser Werte beizutragen.

     

    Dagegen ist kaum etwas so unsicher wie die "Letztbegründungen", die von den Religionsgemeinschaften verkündet werden. "Letztbegründungen", die darin bestehen, dass die Werte und Grundsätze der Gemeinschaft angeblich von einem allmächtigen, gütigen und gerechten Gott stammen sollen. Wenn das einen Menschen veranlassen soll, einen Wert zu übernehmen, dann müsste er das erst einmal glauben; und dazu müsste für einen vernünftigen Menschen eine Begründung her. Die aber hat keine Religionsgemeinschaft. Wie sollte sie auch? Wie sollte sie das in einer Welt voller Leid und voller Ungerechtigkeit, die jeden Glauben an einen allmächtigen, gütigen und gerechten Gott ad absurdum führt?

     

    Die Qualität der Werte, die im angeblichen "Wort Gottes" letztbegründet sein sollen, spricht auch nicht gerade für die Religionsgemeinschaften. Man vergleiche nur einmal die 10 Gebote der Bibel mit dem Grundrechtskatalog des staatlichen Grundgesetzes. Das Grundgesetz erkennt die Religionsfreiheit an, das 1. Gebot lehnt sie ab. Mit seiner Festlegung auf eine bestimmte Religion und dem Verbot jeder anderen läuft es auf die Forderung hinaus: "Du sollst keine Religionsfreiheit haben." Noch deutlicher wird der Unterschied im sittlichen Niveau, wenn man ansieht, was an weniger bekannten Stellen dieses angeblichen "Wortes Gottes" gefordert oder gebilligt wird: Angriffskrieg und Völkermord (Deuteronomium = 5. Mose 20, 10-18; Buch Josua), Verwandtenmord aus religiösen Gründen (5. Mose 13, 7-11), Mord an "Hexen" (Exodus = 2. Mose 22, 17), Mord an Homosexuellen (Levitikus = 3. Mose 20, 13), Diskriminierung von Behinderten (3. Mose 21, 16-23) ... Da kann man von Glück sagen, dass die meisten Christen besser sind als ihre "Letztbegründung" in ihrem "Wort Gottes".

     

    Zwang zu einem vorgegebenen Denken ist eher im konfessionellen Religionsunterricht zu befürchten als in einem staatlichen Pflicht-Ethikunterricht für alle. Im konfessionellen Religionsunterricht wird vor allem eine bestimmte Sicht der Dinge vermittelt - im Pflicht-Ethikunterricht für alle hingegen können verschiedene Sichtweisen einander begegnen. Gerade der staatliche Pflichtunterricht für alle bietet die Möglichkeit, Schüler und Schülerinnen aus den verschiedensten Elternhäusern zusammenzuführen. So können die jungen Menschen eine Vielzahl von Möglichkeiten aus erster Hand kennenlernen, sie können gemeinsam darüber nachdenken und darüber diskutieren. Das ist gut für den einzelnen jungen Menschen, der so in die Lage versetzt wird, seine Entscheidungen in religiösen Fragen auf einer besseren Grundlage zu fällen. Und es ist gut für das Zusammenleben, wenn junge Menschen sich im Umgang mit Andersdenkenden üben. Sabine am Orde hat Recht: Wichtig ist das besonders im einerseits gottfernen andererseits multireligiösen Berlin. Die BerlinerInnen sollten den Ethikunterricht als Pflichtfach für alle retten.

     

    Mit freundlichen Grüßen

     

    Irene Nickel, Braunschweig

  • PE
    Paul E.

    Herr Zöllner, sie scheinen den Ethikunterricht falsch zu interpretieren. Sie gehen offensichtlich davon aus, dass es Ziel des Ethikunterrichtes sei, den Schülern eine staatlich festgelegte Weltsicht aufzuwingen und Andersdenkenden ihre eigenen Vorstellungen auszureden. Da liegen sie falsch. Sie verwechseln das wohl mit der Zielsetzung des Religionsunterrichts.

    Frau am Orde hat recht, wenn sie die Argumentation der Kirchen als anmaßend bezeichnet.

    Ich glaub nicht an einen Gott, aber ich habe sehr wohl Werte und ich werde in der Lage sein, diese Werte an meine Kinder zu vermitteln. Wenn mir jemand diese Fähigkeit ohne mich zu kennen abspricht, nur weil ich nicht an einen Gott glaube, dann ist das eine Unverschämtheit gegenüber meiner Person und millionen anderer nichtgläubiger Menschen (einschließlich der Ethiklehrkräfte).

  • PD
    Prof. Dr. Reinhard Zöllner

    "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." (Ernst Böckenförde)

    Wer diesen Satz ernst nimmt -- wofür die Empirie unseres Gemeinwesens an allen Ecken und Enden spricht --, der wird nicht glauben können, dass ausgerechnet der Staat und von ihm verordneter Zwangsunterricht der geeignete Moderator für das Nachdenken über Religion, Glauben, Ethik und Wohlverhalten sei. Der Staat ist kein neutraler Vermittler von Werten, und er ist auch nicht der Erfinder des Gewissens -- und schon gar nicht dessen Behüter. In jeder Diskussion um Datenschutz oder Kriegsverweigerung das Recht auf selbständige Entscheidung und Selbstverantwortlichkeit der Bürger zu fordern und es gleichzeitig zu bestreiten, wenn es ums Grundsätzliche, um die Letztbegründung von Werten geht -- wie passt das zusammen?

    Logisch gar nicht. Ideologisch nur, wenn der wahre Feind der Freiheit nicht im Staat, sondern in den Religionen erblickt und im staatlichen Zwang zum einheitlichen Denken das kleinere Übel gesehen wird. Meinem Freiheitsbegriff entspricht das nicht, und mich wundert, auf wessen Seite sich die TAZ hier schlägt.