Pressefreiheit in Estland: Der spuckende Kellner
Estlands Regierung will den Quellenschutz für Journalisten aushebeln. Die Tageszeitungen protestieren mit leeren Titelseiten und ernten von den Politikern nur Hohn.

STOCKHOLM taz | Kellner „Juri“ von einem Restaurant in Tallinn hat seine Methode, sich bei nervenden Gästen zu rächen. Er spuckt ihnen in die Suppe oder aufs Schnitzel. Als Sergo Selder, Reporter bei der Tageszeitung Eesti Päevaleht im Januar 2004 ein Interview mit „Juri“ veröffentlichte, kam er mächtig unter Druck.
Das Innenministerium fürchtete um den touristischen Ruf des Landes. Mobilisierte die Polizei, die Selder androhte ihn für einige Tage in den Knast zu stecken oder seine Karriere zu beenden, wenn er den Namen des Kellners nicht preisgebe. Der Reporter blieb standhaft. Sein Fall gilt dem Journalistenverband Estlands seither als leuchtendes Beispiel für die Verteidigung des Informantenschutzes.
Spuckende Kellner oder Insiderinfos über korrupte Politiker: Für die Zukunft des Quellenschutzes sehen die estnischen Zeitungen nun so schwarz, dass drei von ihnen am vergangenen Donnerstag mit weißen Titelseiten erschienen. Und neben Postimees, Äripäev und Öhtuleht, der jeweils auflagenstärksten Qualitäts-, Wirtschafts- und Boulevardzeitung, schlossen sich noch drei andere Blätter dem Protest mit leeren Seiten im Inneren ihrer Ausgaben an. „So droht unsere Zeitung in Zukunft auszusehen“, schrieb Eesti Päevaleht.
Ein Entwurf des Justizministeriums über ein „Pressequellenschutzgesetz“ liegt dem Parlament vor. Und würde nach Meinung der Medien ganz im Widerspruch zu seinem Namen diesen Quellen- und Informantenschutz von Journalisten aushebeln. Am 7. April soll im Riigikogu darüber abgestimmt werden.
„Mit unserer Aktion wollen wir Öffentlichkeit und Abgeordnete auf die schweren Konsequenzen dieses Gesetzes aufmerksam machen“, erklärt Postimees-Chefredakteurin Merit Kopli: „Wir hoffen, dass die Politiker noch rechtzeitig einsehen, dass damit die Pressefreiheit entscheidend eingeschränkt würde.“
Estland hat bislang kein Gesetz, das den Quellen- und Informantenschutz von Medien ausdrücklich garantiert. Es gibt nur einen internen Pressecodex. Nun will die Regierung diesen Schutz zwar gesetzlich verankern - aber nur im Prinzip. Das Gesetz enthält nämlich über 50 Ausnahmen von der Regel. In der Praxis würde das den Quellenschutz so gut wie vollständig beseitigen, befürchtet Dirk Voorhoof, Professor für Medienrecht an der belgischen Universität Gent: „Die Ausnahmen würden den angeblichen Gesetzeszweck aushebeln.“
Wenn ihre Informationen interessant im Zusammenhang mit polizeilichen Ermittlungen sein könnten, sollen Journalisten sich nicht mehr auf den Schutz der Anonymität ihrer Quellen berufen können. Es drohen ihnen Geldstrafen von 500 Tagessätzen oder Haftstrafe von bis zu einem Jahr sollten sie diese nicht freiwillig preisgeben. Eine Strafanzeige wegen angeblichen Verrats von Geschäftsgeheimnissen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren würden genügen, einen solchen Mechanismus in Gang zu setzen.
Mehr noch: Das Gesetz will es auch möglich machen, dass ein Gericht im Rahmen einer einstweiligen Verfügung das Erscheinen von Artikeln schon vor ihrer Publizierung stoppen kann. „Allein der bloße Verdacht, eine Zeitung könnte möglicherweise für jemand unbequeme Informationen veröffentlichen, könnte genügen eine solche Gerichtsentscheidung mit Strafandrohung gegen den Verlag zu erwirken“, sagt Meelis Mandel, Chefredakteur von Äripäev: „Investigativer Journalismus würde damit unmöglich.“ Und Mandel warnt: „Das Gesetz würde uns in den Hinterhof der Pressefreiheit zurückversetzen. Noch hält Estland eine vordere Position auf den internationalen Ranglisten.“ Auf der von „Reporter ohne Grenzen“ liegt Estland auf einem stolzen sechsten Platz – Deutschland rangiert da erst auf Rang 18.
Justizminister Rein Lang weist Befürchtungen, das neue Gesetz sei eine Gefahr für die Pressefreiheit, als „übertrieben“ zurück und tut die Protestaktionen der sechs Zeitungen als lächerlich ab: „Sollen sie ihre Seiten doch lieber mit Informationen füllen.“ Und Innenminister Marko Pomerants meinte, die Zeitungen würden wohl ihre eigene Bedeutung überschätzen: „Die theoretischen Fälle, die sie konstruieren, gibt es nicht. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo das Gesetz solche Auswirkungen hätte haben können, wäre es bereits in Kraft.“
Das sei angesichts mehrerer Beispiele aus den letzten Jahren, Journalisten in von ihnen recherchierten Korruptionsfällen zu Aussagen zu veranlassen, zum einen unzutreffend, zum anderen kein Argument, meinen der estnische Journalistenverband und die Vereinigung der Zeitungsherausgeber: Der Gesetzgeber solle gar nicht erst das Einfallstor für solche Begehrlichkeiten öffnen. Schliesslich sei der journalistische Quellenschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert.
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