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Press-SchlagNeuer als Neuner und die scharfe Sieben

Die Raumaufteilung auf dem Platz war früher irgendwie anders – nur das Lieblingseis im Stadion ist noch immer ausverkauft

Die Fußballkommentare der vergangenen Monate waren voll mit Überlegungen, wie der Ball am stilvollsten hinter die Torlinie des Gegners zu tragen ist. Brauchen wir den klassischen Mittelstürmer noch? Oder schon wieder? Darf man ihn „Sturmführer“ nennen? Gerade in Zeiten wie diesen? Gerade, wenn er Mario Gómez heißen sollte, und das Geld für seinen Erwerb und Unterhalt mit dem Verkauf mittelpreisiger Mittelklassewagen erwirtschaftet wird? Gerade wo junge Menschen sich vor Flüchtlingsunterkünften treffen, um auf der Fensterbank stehende Asylbewerber mit besoffenem Geschrei zum Sprung in den Tod zu motivieren?

Können zwei Sechser den zwölften Mann ersetzen? Oder, koketter gedacht: Ist Neuer der neue Neuner? Wenn man ihn nur laufen lässt? Und wo müsste man Sicherheitskräfte positionieren, um den Mann aufzuhalten? Der wichtigste Gedanke des letzten Spieltages kam allerdings von René Adler, der sagte: „Wir lassen uns abschlachten und ergeben uns. Das kann man als Bundesligamannschaft nicht machen.“

Nun beweist gerade der HSV derzeit, dass man das als Bundesligamannschaft sehr wohl tun kann, und zwar neunzig Minuten an jedem Spieltag. Außer acht lassend, dass der Gedanke von einem ehemaligen Nationaltorhüter ausgesprochen wurde, der wesentlich mehr Geld mit wesentlich weniger Aufwand in einem Land verdienen könnte, das über wesentlich größere Ölreserven verfügt als Norddeutschland: Der Gedanke, wieder mehr über die Abwehrarbeit nachzudenken, ist durchaus richtig.

Auf der Linie lauert derzeit ein Spieler wie Rene Adler. Um den herum kümmert sich eine Dreier- oder Viererkette um die Angriffsbemühungen des Gegners. Knapp davor beginnt schon der Angriff. Was wurde eigentlich aus der schlaffen Fünf? Meist links vor der Abwehr positioniert, setzte sie regelmäßig zu irgendwie tantenhaft wirkenden Vorstößen an. Ging ihr nach wenigen Metern die Luft aus, schlug sie eine Flanke aus dem Halbfeld. Mehrere Sekunden lang trudelten diese Bälle in der Luft – Zeit genug, um die Kollegen im Angriff in Ruhe nachdenken zu lassen. Über den nächsten Pass. Oder den vernünftigen Abschluss der Aktion. Oder über die Sinnhaftigkeit ihres Tuns.

Der kongeniale Partner der schlaffen Fünf war auf der rechten Seite die scharfe Sieben. Der Vollstrecker, der sich mit weit offener Sohle dem gegnerischen Angriff entgegenwarf. Auch die scharfe Sieben wurde von der Fußballevolution vergessen.

Die Älteren unter der Leserschaft werden sich eventuell noch an den 14. August 1981 erinnern. Norbert Siegmann von Werder Bremen analysiert die Lage. Ein kurzer Tritt mit spitzen Stollen. Die Wunde im Oberschenkel von Gegenspieler Ewald Lienen maß 15 Zentimeter. Momente wie diese können Leben verändern. Nach dem Ende der Karriere reise Siegmann um die Welt und besuchte dabei das Yogazentrum Rishikesh. Siegmann ist heute bekennender Buddhist. Lienen trainierte bereits nach einem knappen Monat wieder. Sein Leben fristet er heute als Trainer des FC St. Pauli.

Die Zeit strotzt von Superlativen. Kurz vor dem Wochenende wurde die Ablösesumme eines Spielers von Real Madrid auf 250 Millionen Euro festgesetzt. Vielleicht klingt der Autor dieser Zeilen älter, als er sein möchte: Aber es ist Oktober, in ein paar Stunden wird es dunkel, und bis April wird das Wetter vorrangig mies sein. Zwei Stunden im Stadion können lang werden. Und die Toiletten sind immer besetzt, und das Lieblingseis ist immer gerade ausverkauft. Die nächsten fünf Jahre wird Bayern München noch Meister. Je schneller wir uns damit abfinden, desto weniger tut es weh. Danke. Knud Kohr

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