■ Press-Schlag: Wanted: der Zuschauer
Bei der Leichtathletik-WM der Behinderten in Berlin purzeln die Weltrekorde, bei den Goodwill Games in St. Petersburg gab es bislang nur einen Superlativ: den kürzesten Boxkampf aller Zeiten. Nach sechs Sekunden, der Gong war kaum verklungen, lag der Hallenser Dirk Dzemski gegen den Kubaner Lemus flach. Erstmals in der Geschichte des Faustkampfes dauerte das Auszählen länger als der ganze Fight.
Gemeinsam ist beiden Veranstaltungen trotz solch spektakulärer Vorkommnisse ein bedauerlicher Fakt: Kaum jemand möchte zuschauen. Die Besucherzahlen tendieren trotz teilweise freien Eintritts gen null, sogar beim Supersprint der Goodwill Games mit Carl Lewis und Leroy Burrell kamen nur 8.000 Menschen. Verzweifelt gesucht: der Zuschauer!
Der Sportzuschauer, den wir der Einfachheit halber in seiner häufigsten Erscheinungsform betrachten wollen, der männlichen, ist ein scheues Wesen, das entweder in großen Herden oder aber gar nicht auftritt. Seine einst immense Bedeutung für die finanzielle Kalkulation ist weitgehend geschwunden, nur in seiner Eigenschaft als TV-Konsument spielt er noch eine Hauptrolle. Im heimischen Fernsehsessel schaut er sich so ziemlich alles an, sogar Heribert Faßbender und Windsurfen, ins Stadion aber ist er extrem schwer zu bewegen und dabei äußerst unberechenbar, es sei denn, er ist Amerikaner. Der US-Bürger rennt auch zu Sportarten, von denen er noch nie gehört hat, ja, er geht sogar zum Baseball. Sagte man früher von Schalke 04, es bräuchte nur das Flutlicht eingeschaltet zu werden, schon sei das Stadion voll, so braucht in einer Arena der USA nur eine Popcorn-Bude geöffnet zu werden, und 60.000 stehen auf der Matte.
In Europa ist das alles anders und ganz besonders in Berlin. Während in anderen deutschen Städten die Menschen plötzlich wieder zur Bundesliga gehen, weil sie Sat.1 nicht mehr ertragen können, geht der Berliner nie zum Fußball. Dafür hat er einen guten Grund, und der heißt Hertha BSC. Als Michael Stich kurz nach seinem Wimbledon- Sieg in der neuen Hauptstadt spielte, kamen 800 arme Seelen, Vorrunden-Spiele der Basketball-EM sahen gerade mal 300 Leute. Und selbst beim Istaf, dem Leichtathletik-Sportfest, bei dem im vergangenen Jahr kurz nach der WM fast alle Titelträger an den Start gingen, war das Olympiastadion halb leer. Da kann es kaum verwundern, daß die Behinderten-WM mitten in den Sommerferien praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, ganz abgesehen davon, daß jemand, der sich bei 35 Grad freiwillig in den brütenden Kessel des Olympiastadions begibt, ziemlich jenseits von Gut und Böse sein muß.
Die Aktiven dieser WM sind dennoch sauer. Sie schwelgen in Erinnerungen an die 30.000, die ihnen im Sog der Olympischen Spiele 1992 bei den Paralympics von Barcelona zujubelten, und reklamieren die Publikumsgunst nun quasi als ihr gutes Recht. Ebenso wie Turner, Eisschnelläufer, Kanuten, Gewichtheber und andere Betreiber unpopulärer Sportarten wiegen sie sich in dem naiven Glauben, daß große Leistungen allein den Zuschauer und – last, but mitnichten least – die Sponsoren mobilisieren müßten. Doch der Zuschauer ist wählerisch, liebt Superlative und fliegt auf große Namen. Ihn interessiert (wenn überhaupt, siehe St. Petersburg) der schnellste 100-Meter-Läufer und nicht der schnellste in Schadensklasse XY, ein Startsprung der Franziska van Almsick mobilisiert mehr Fans als drei Weltrekorde von Marianne Buggenhagen.
Lamentieren ist zwecklos, die Kluft zwischen den Superstars des Sports und ihren armen Verwandten, die höchstens alle vier Jahre bei Olympia ein wenig Rampenlicht abbekommen, wird immer größer. Dafür sorgt schon Juan Antonio Samaranch. Die Sportlerinnen und Sportler, die durch das Netz der Vermarktbarkeit fallen, müssen sich wohl oder übel damit abfinden, Hochleistungssport unter den Bedingungen des Breitensports zu betreiben: umsonst, draußen und allein. Matti Lieske
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