Press-Schlag: Rette sich, wer kann
■ Drohen in Atlanta olympische Jagdszenen beim Speerwerfen?
Im Mai stellte der Tscheche Jan Zelezny einen beängstigenden Fabel-Weltrekord im Speerwerfen auf. Nach 94,48 Metern durchbohrte sein Pilum den Hallenser Rasen und weckte damit die Urängste nicht nur der Sportstatistiker, sondern auch der Zuschauer. Was wäre, wenn sich die spitze Aluminium-Zigarre verflogen hätte und auf dem Schoß eines Leichtathletik-Fans gelandet wäre? Alte Erinnerungen wurden wach an den Gewaltwurf des DDR-Werfers Uwe Hohn im Jahre 1984.
Damals wurde die Gefahr schnell gebannt. Der Sportwelt bescherte der damals 21jährige Hohn eine tiefgreifende Speerreform. Sein Wurf auf 104,80 Meter erschreckte nicht nur freilaufende Hochspringer und Langstreckler, sondern brachte auch Funktionäre zum kreativen Grübeln. Den Speer schwerer machen oder aerodynamisch verhunzen? war damals die Frage. Die Orthopäden dachten an kaputte Schultern und Ellenbogen und opponierten deshalb gegen die erste Lösung. Die zweite hatte außerdem den Vorzug, daß ein Speer, der nicht mehr richtig segelt, zumindest im Rasen steckt.
Zur Saison 1986 wurde der Schwerpunkt vier Zentimeter nach vorne verlegt. Der Ästhetik des Segelns folgte die Pragmatik des Kippens. Hochspringer und Langstreckenläufer brauchten sich nicht mehr um Uwos (Unbemannte Wurfobjekte) zu kümmern und den Himmel vor dem Sprung über die Latte nach potentiellen Feindkörpern absuchen. Und die ZuschauerInnen konnten wieder ruhig sitzen.
Hochaktiv wurde dagegen die Sportartikelindustrie. Es gab kräftig zu verdienen. Nach Schätzungen des DLV wanderten allein in Deutschland etwa 20.000 neue Speere (Marktpreis zwischen 80 und 1.000 Mark pro Stück) in die Geräteschuppen der Schulen und Vereine. Der erste aktenkundige Weltrekord mit dem neuen Kippspeer purzelte auf bescheidene 85,74 Meter. Klaus Tafelmeier aus Leverkusen hatte die Ehre.
Muß die Reform nach eventuellen weiteren Gewaltwürfen in Atlanta nun nachgebessert werden? Womöglich reibt sich die Geräte-Industrie schon erneut die Hände. Wie wär's diesmal mit einem Automatik- Bremsfallschirm ab 100-Meter- Weiten? Oder einem feinmaschigen eisernen Schutzvorhang für die Sitztribünen? Besser wohl die telegene gläserne Auffangwand vor der Hochsprungmatte. Wer am knappsten unter die Hundert kommt, hat gewonnen: Dann wäre Jan Zelezny nur Zweiter. Denn 1983 warf der US-Amerikaner Tom Petranoff aus den USA 99,72 Meter – mit dem Segelspeer allerdings. Gerd Michalek
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