Press-Schlag: Opa soll es richten
■ Nach dem 1:1 im Hinspiel gegen die Türkei muss Irland auf Cascarino hoffen
Anne war kurz vor dem Anpfiff eingenickt. Sie hatte sich den ganzen Samstagnachmittag in dem Nord-Dubliner Pub auf das Qualifikationsspiel zur Fußball-Europameisterschaft zwischen Irland und der Türkei eingestimmt, und nun verpasste sie den furiosen Start des irischen Teams. Nach vier Minuten hatten die Iren vier lupenreine Torchancen vergeben.
Als Anne aufwachte, war die irische Mannschaft eingenickt. Mehr als eine Stunde passierte auf dem Rasen sowenig, dass sich das Anarchisten-Kollektiv am Nachbartisch vom Großbildschirm abwandte und über Politik diskutierte. Während Anne in halbwachem Zustand ab und zu ein „Fuck, schießt endlich ein Tor“ ausstieß, analysierte Florian, Gast aus Berlin, das Spiel mit der Gnadenlosigkeit des neutralen Zuschauers: „Grauenhaftes Gekicke.“
Für Emotionalität sorgte nur der türkische Torwart Rustu Recber, der den Zorn der Zuschauer in Stadion und Kneipe auf sich zog, weil er sich nach einem harmlosen Rempler eine Ewigkeit auf dem Rasen wälzte, um Zeit zu schinden. Nur die irischen Journalisten lösten noch größere Entrüstung aus, als sie Rustu zum „Spieler des Tages“ wählten. Elf Minuten vor Schluss war immerhin doch noch ein Tor für Irland gefallen, die feierliche Runde Bier war allerdings noch nicht gezapft, da glichen die Türken durch einen völlig berechtigten Handelfmeter aus. Die Katastrophe war perfekt.
In Bursa, wo übermorgen gespielt wird, erwartet die Iren nichts Gutes. Der türkische Trainer Mustafa Denizli ist nämlich wütend. Er war mit seinem Team bereits eine Woche vor dem Spiel angereist, um sich an das berüchtigte irische Wetter zu gewöhnen, doch der irische Fußballverband und Trainer Mick McCarthy versuchten die ganze Zeit, sein Team psychisch fertig zu machen, behauptete er. Man hatte die Türken im exklusiven Portmarnock Golf Hotel untergebracht, gleich neben dem von Bernhard Langer entworfenen Golfplatz.
Aber sie waren ja nicht zum Golfspielen hergekommen, sondern zum Fußballspielen, und das sollten sie auf dem Universitäts-Sportplatz üben – eine Dreiviertelstunde Fahrzeit entfernt. Denizli kündigte an, dass man es den Iren beim Rückspiel heimzahlen und sie durch die halbe Türkei schicken werde. Das türkische Fernsehen erwies sich ebenfalls als rachsüchtig: Es verdoppelte den Preis für die Übertragungsrechte auf zwei Millionen Dollar, und falls der irische Sender RTE nicht sofort zusage, erhöhe sich die Gebühr auf drei Millionen. RTE hatte ein Zwanzigstel dieser Summe geboten.
Unzufrieden war der türkische Trainer auch mit den irischen Hiobsbotschaften über die Verletzungen einiger Spieler. „Ich denke, die Iren wissen, dass wir die bessere Mannschaft haben“, sagte er. „Nun versuchen sie, uns für dumm zu verkaufen, indem sie behaupten, viele ihrer besten Spieler seien verletzt. Sie tun das, um die Moral meiner Spieler zu untergraben, aber das wird nicht klappen.“ Es klappte dann ja auch nicht.
Übermorgen im Atatürk-Stadion von Bursa – „vor fanatischen türkischen Horden, die bis an die Zähne mit Pistolen bewaffnet sein werden“, prophezeit die Boulevardzeitung News of the World – muss wegen der Gelbsperre von Robbie Keane nun Tony Cascarino die Tore schießen, und ein Tor brauchen die Iren mindestens. Cascarino ist 37 und hat schon im legendären Charlton-Team gespielt. Von diesen Zeiten muss er den jungen Spielern immer wieder erzählen, sagt er. „Ich fühle mich wie ein Großvater, der seinen Enkeln Gute-Nacht-Geschichten vorliest.“ Leider spielt er auch wie ein Opa, und so wird es mit der Qualifikation wohl wieder nichts.
Die Iren kennen das Gefühl des Scheiterns. 1996 sind sie von den Niederlanden, 1998 von Belgien aus dem Wettbewerb geworfen worden. Ausgerechnet in diesen beiden Ländern finden die Europameisterschaften 2000 statt. Ein miserables Omen, unkt die Reporterin Amy Lawrence. Auf der irischen Mannschaft liege ohnehin ein Fluch, denn gegen Kroatien und Makedonien hat sie jeweils in der 94. Minute ein Tor kassiert – sonst wäre sie längst für die EM qualifiziert.
Lange nach dem Abpfiff kam Anne wieder zu sich. „Haben wir gewonnen?“, fragte sie.
Ralf Sotscheck
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