Preisverleihung bei Berlinale: Mit besten Grüßen nach Teheran
"Nader und Simin, eine Trennung", der Beitrag des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, erhält wie erwartet den Goldenen Bären. Der Rest des Wettbewerbs war reichlich fade.
BERLIN taz | Die Jury tat, was nahelag: Am Samstagabend verlieh sie den Goldenen Bären an den iranischen Film "Nader und Simin, eine Trennung". Zudem erhielten das männliche und das weibliche Darstellerensemble jeweils einen Silbernen Bären. Vorhersehbar waren diese Auszeichnungen aus mehreren Gründen. Seit der ersten Pressevorführung galt Asghar Farhadis Film als Favorit des Berlinale-Wettbewerbs. "Nader und Simin, eine Trennung" ist souverän gebaut, dem Film glückt es, eine umso größere Komplexität zu entfalten, je länger er andauert. Man folgt den vielen Wendungen im Plot und in der Figurenkonstellation gebannt. Hinzu kommt, dass die schwierige Situation von Künstlern, Intellektuellen, Schriftstellern und Filmemachern im Iran nach einer solchen Auszeichnung schreit.
Der Goldene Bär lässt sich als Zeichen der Anteilnahme begreifen und auch als ein solidarischer Gruß an die beiden Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof, die im Dezember wegen eines im Konzeptstadium befindlichen Filmprojektes zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt wurden. Panahi wurde in die Wettbewerbsjury der Filmfestspiele eingeladen, durfte aber nicht ausreisen. Mit Diskussionen, einer Werkschau und einer Galavorführung wurde er in Berlin geehrt. Der Goldene Bär für seinen Landsmann Farhadi passt gut zu diesen Solidaritätsbezeugungen.
"Nader und Simin, eine Trennung" erzählt von einem Teheraner Paar aus der Mittelschicht, das einen Ausreiseantrag gestellt hat. Als die Bewilligung erteilt wird, macht Nader (Peyman Moadi) seines kranken Vaters wegen einen Rückzieher. Simin (Leila Hatami) reicht daraufhin die Scheidung ein und zieht zu ihrer Mutter, die heranwachsende Tochter Termeh (Sarina Farhadi) bleibt bei Nader. Der wiederum engagiert eine Pflegerin, die sich um den dementen Vater und den Haushalt kümmern soll, eine Aufgabe, die Razieh (Sareh Bayat), eine junge, fromme Frau aus der Vorstadt, überfordert. Viel Konfliktstoff ist angelegt: auf der einen Seite stehen die Angehörigen einer wohlhabenden, säkularisierten Schicht, auf der anderen steht die Hausangestellte, die jeden Tag um fünf Uhr früh aufbrechen muss, um ihren Dienst um acht Uhr anzutreten, und die ihr Heil in Frömmigkeit sucht.
Die Konflikte setzen sich in den jeweiligen Paarkonstellationen fort; Nader und Simin ringen um ihre Tochter, ohne dabei Rücksicht auf das Kind zu nehmen, Razieh und ihr Mann ringen mit ihrer miesen wirtschaftlichen Lage und mit Ehrbegriffen, die sie sich ganz buchstäblich nicht leisten können. Das Kunststück von "Nader und Simin, eine Trennung" ist, dass Farhadi mit jeder Wendung des Plots eine neue Komplexitätsebene einzieht. Nie weiß man, welche Figur im Recht ist und welche nicht; alle sind es gleichermaßen, jedenfalls die längste Zeit des Films über.
"About Elly", Farhadis vorletzter Film, erhielt vor zwei Jahren den Silbernen Bären für die beste Regie; er erforschte einen ganz ähnlichen Konflikt zwischen reichen und armen, säkularisierten und frommen Figuren. Wer ihn gesehen hat, wird in "Nader und Simin, eine Trennung" einige Déjà-vus gewahren, was die Freude am neuen Film ein wenig schmälert. Hinzu kommt, dass "Nader und Simin, eine Trennung" nur gütige Menschen kennt, sobald Vertreter von staatlichen Einrichtungen wie Polizei, Justiz und Schule auftreten.
Gerechte Richter, besonnene Polizisten und aufrichtige Lehrer bevölkern den Film. Einige Kritiker haben Asghar Farhadi deshalb Regimetreue vorgeworfen, eine Anschuldigung, die harsch ist und verkennt, dass sich der Regisseur auf Kompromisse einlassen muss, will er einen Film wie diesen realisieren. Zum Thema Zensur hat sich Farhadi in Berlin folgendermaßen geäußert: "Schon bevor man den Film macht und am Drehbuch arbeitet, muss man bestimmte Dinge im Kopf haben und beachten."
Dass man nichts Genaues über Simins Wunsch auszureisen erfährt, dass es keine offene Kritik an der Justiz oder an der Polizei gibt, wird dieser Vorsicht geschuldet sein. Man kann dies kritisieren, die Kompromissbereitschaft mit Regimetreue zu verwechseln, führt umso mehr in die Irre, als man sich seit Panahis und Rasoulofs Verurteilung lebhaft vorstellen kann, was die Alternative ist: einen Low-Budget-Underground-Film drehen und dafür Gefängnis und Existenzvernichtung riskieren.
Die Entscheidung der Jury für Asghar Farhadis Film lag freilich noch aus einem anderen Grund nahe: Es gab im diesjährigen Wettbewerbsprogramm schlichtweg nicht viel, was eine Auszeichnung wert gewesen wäre. Der auf 16 Filme verknappte Wettbewerb bewegte sich auf einem Niveau, das das der Vorjahre noch unterbot. Dieter Kosslick und sein Auswahlteam favorisieren ein Weltkino, das politische Relevanz behauptet und dabei über faden Realismus und konventionelles Erzählen nur selten hinausweist. Der Wettbewerb wandert von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl zu einer dysfunktionalen afroamerikanischen Familie, schaut unterwegs einer Blutfehde im albanischen Hinterland zu, erlebt die Auswirkungen der argentinischen Militärdiktatur und die Geburt der RAF aus der stickigen Bundesrepublik der 60er Jahre - und langweilt dabei zusehends. Wo ist die kühne Setzung, wo die spezifische künstlerische Durchdringung des jeweiligen Stoffs?
Nicht, dass der eine oder andere Film es nicht versuchte. Alexander Mindadzes Tschernobyl-Drama "V Subbotu" ("An einem Samstag") etwa hantiert mit der Handkamera im Nacken der Figuren, dass es eine Art hat, doch weit kommt er mit dieser Verbeugung vor der Kameraarbeit der Brüder Dardenne nicht. Der zweite inhaltliche Schwerpunkt des Wettbewerbs, die vielen Beziehungs- und Trennungsgeschichten, kann an der Eintönigkeit nichts ändern. Denn auch hier herrscht das Konventionelle vor, und wenn ausnahmsweise doch etwas mehr Risikofreude im Spiel ist, dann in Gestalt einer sprechenden Katze in Miranda Julys "The Future". Schade, dass sich die Schmirgelpapierstimme dieses sympathischen Tieres ausgerechnet im regressivsten Film des Festivals erhebt.
Was an all diesen Beispielen recht deutlich zutage tritt, ist eine traurige Wahrheit: Wenig Anschluss hat die Berlinale an das, was das Kino einmal konnte, heute kann und in Zukunft können wird. Für Regisseure wie David Cronenberg oder Terrence Malick hat das Festival offenbar an Bindungs- und Strahlkraft verloren, sodass sie nicht erwägen, nach Berlin zu reisen, obwohl ihre neuen Filme fertig oder fast fertig sind. Das allein ließe sich verschmerzen, glückte es Dieter Kosslick denn, Filmemacher einzuladen, die sich mit Konsensware und Arthouse-Formeln nicht zufrieden geben.
Doch das ist nicht der Fall. Umso schöner, dass die Jury unter dem Vorsitz von Isabella Rossellini aus dem vielen Mittelmaß zielsicher zwei weitere preiswürdige Kandidaten herausgepickt hat. Der Berliner Regisseur Ulrich Köhler kann sich über einen Silbernen Bären für die beste Regie freuen; sein Wettbewerbsbeitrag "Schlafkrankheit" verschränkt souverän zwei Lebenswege vor dem Hintergrund der postkolonialen Situation im heutigen Kamerun. Der Film steht mit einem Zeh in der Komödie, mit einem anderen in Joseph Conrads Buch "Herz der Finsternis", mit einem dritten in einer kritischen Reflexion der Entwicklungspolitik und mit einem vierten in Erinnerungen des Regisseurs, der als Kind einige Jahre in Zaire lebte; zugleich merkt man ihm an, dass sich der 1969 geborene Köhler von den interessanten Autoren des Weltkinos wie Apichatpong Weerasethakul oder Lucrecia Martel inspirieren ließ, ohne ihnen deshalb zu verfallen. So ist "Schlafkrankheit" ein wirklich schöner Beleg dafür, dass es sich lohnt, vor die Tür zu treten und die Augen weit aufzumachen.
Der Große Preis der Jury schließlich ging an Béla Tarrs dunklen Solitär "A torinói ló" ("Das Turiner Pferd"), den einzigen Film des Wettbewerbs, der sich von einem ausgeprägten Willen zur Kunst antreiben ließ. "A torinói ló" ist eine Zumutung im besten Sinne, störrisch wie das titelgebende Pferd, schroff, schwarz-weiß, repetetiv, kurz: eine wuchtige Negation, deren ästhetische Setzungen bisweilen nerven, deren Art und Weise, alles Leben und alle Zukunft auszuhauchen, aber zum einprägsamsten gehört, was die diesjährige Berlinale zu bieten hat, sieht man einmal von Werner Herzogs bereits beim Filmfestival von Toronto präsentierter, großartiger 3-D-Dokumentation "Cave of Forgotten Dreams" ab, die - neben vielem anderen - die Geburt des Kinos aus den Felszeichnungen in einer Tropfsteinhöhle besingt. Mehr von Herzogs "ekstatischer Wahrheit" und weniger fader Realismus: Das hätte dem Festival gut zu Gesicht gestanden.
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