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Praktische kleine Republik

Neues aus Deutschland, dem „Grund, auf dem wir Gegenwärt'gen glitschen“: Jutta Raulwing, Peter Kurzeck, Steffen Kopetzky, Heiko Michael Hartmann, Stephan Wackwitz mit Romanen, Essays, Autobiographischem  ■ Von Mariam Niroumand

Auf den Bürgersteig der Heimstraße in Berlin-Kreuzberg hat jemand in Riesenlettern eine Nachricht an seine Freundin geschrieben; sie wird gebeten, sich die Trennung noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Man stutzt ein bißchen: Die selbstverständliche Inanspruchnahme der Umgebung als beliebig kolorierbare Kulisse des eigenen Innenlebens, dieser Textgestus scheint aus einer lange verflossenen Zeit zu stammen. Umgekehrt gibt es aber auch nichts, was man getrost „Heimatliteratur“ nennen würde, in der die Bedeutungsreservoirs der Nachbarschaft sorglos geplündert würden. Wie sollte es auch. Vor dem gezeichneten Antlitz der praktischen kleinen Bundesrepublik hat man sich noch immer lieber in die Niemandsbucht zurückgezogen.

Nachrichten aus der Provinz bleiben im klaustrophobischen Ton gehalten; den Großstadtroman gibt es nicht, jedenfalls nicht ohne Gothic Thrills oder gleich als Krimi. Das letzte Mal, daß zur frohen Auslieferung an die Reizüberflutung durch die unmittelbare Nachbarschaft aufgefordert wurde, ist schon über dreißig Jahre her, und da waren die Lieblingsreize auch eher „Old Dutch Reinigungsmittel und Shirley Temple“ (R.D. Brinkmann) als Romy Schneider und Kaffee Haag. Aber der Heroismus der Bordsteinkante lief schon in den siebziger Jahren in die melancholische Suchbewegung der Desillusion und der Überforderung aus. Wer sich davor mit Material, Fakten, Fakten und Recherche zu schützen versuchte, konnte sich schnell das Label des bloß „Soziologischen“ einhandeln.

Bei dieser Unsicherheit ist es geblieben. Einiges, was es in diesem Frühjahr zu lesen gibt, tastet sich aber doch an der Haustür vorbei, schon um nicht ewig über die Großwetterlage reden zu müssen.

Jutta Raulwings erster Roman, „Der General, Marlene Dietrich und ich. Eine Familiengeschichte“, soll Ostwestfalen und angrenzenden Gebieten zu ihrem Recht verhelfen. Die 1965 in Bünde geborene Autorin läßt ihre Protagonistin Lüd, inzwischen Wahlberlinerin („very girly“), nach Hause zurückfahren, wo sie, gemeinsam mit ihrem Bruder Ole, die sterbende Großmutter besucht. Die nennen sie „Der General“, weil „meine Familie etwas von einer Armee hat“, als Einzelkämpfer in alle Winde zerstreut, ein Bild wie vom zersiedelten Ostwestfalen.

Wenn Lüd die Contenance zu verlieren droht, muß sie sich nur erinnern, daß sie – auf Wunsch des Generals – „Sabine Christiansen“ ist, mit Clubjacke und Strähnchen und gemäßigtem Auftreten. Bei der Fahrt über die Kennedy- Brücke, die Bonn von Beuel trennt, pflegt ihr Bruder eine Legende zum besten zu geben: „Der Rhein fließt so vor sich hin, ganz ordentlich, wie sich das für einen deutschen Fluß gehört. Dann regnet es und regnet und regnet, tagelang. Der Vater Rhein tritt über die Ufer, ein Riesentheater. Die Feuerwehr rückt an, die Leute kommen gelaufen, mit Eimern und allem. [...] Für einen Ostwestfalen, der mit Wasser und Naturgewalten nie konfrontiert wurde, war dies das schönste Bürgerbild. Alle schöpfen den Rhein aus den Kellern der Bürger, deren Häuser nah am Wasser gebaut sind. Hemdsärmelig stehen sie in einer Kette, reichen sich eimerweise den Vater Rhein und schütten ihn da hin, wo er hergekommen. Was da alles gerettet wurde, sagt Ole, Liebesbriefe aus Stalingrad, nicht ein einziger war aufgeweicht.“

Ein Historiengemälde. Stalingrad ist nicht die Black box, in die alle Kanäle magisch wieder zurückführen, sondern es wird mitgeschleppt und von Dringlicherem überlagert. Mehr beiläufig fließt es ein. Bürger retten anderer Bürger Liebesbriefe, ob die Natur sie nun strafen wollte oder nicht. Erzählt wird im Salinger-Ton, der auch seine Klagen immer unterhalb des Radars einfliegen muß.

Der Generation davor ist diese Tonlage nicht zur Hand. Der Ich- Erzähler in Peter Kurzecks „Übers Eis“, dem ersten von vier autobiographischen Romanen des 1943 in Böhmen geborenen Frankfurter Schriftstellers, kann sich nicht erinnern, wie es zuging, daß er „nur noch in Katastrophen zu denken vermag“. Frankfurt durchstreift er mit der unbestimmten, Verluste bilanzierenden Sehnsucht der siebziger Jahre, („weißt du noch, wie wir John, Paul, George und Ringo, wie wir die Welt und uns selbst und die Beatles erfunden haben“), die das Unglücklichsein als „Einzelhaft“ und damit als irgendwie gesellschaftlich determinierte, verordnete Tortur beschreibt. Verlassen von Frau und Kind, sieht er leere Zimmer, zugeschneite Plätze, Mauern, blasse Pakistani, blutige Weisheitszähne, alle in irgendeinem Zusammenhang stehen, der sich beim Gang durch die Straßen mehr „überträgt“ als offenbart. Verschwunden ist das Personalpronomen: „Hin und her mit der U-Bahn und in der U-Bahn Schweißausbrüche, die Luft anhalten, stehen und zittern. [...] In Bockenheim, Preungesheim, Griesheim, im Bahnhofs-, im Gutleut-, im Gallusviertel. Am Leben bleiben, sich selbst nicht mehr kennen und jeden Tag schichtweise. Teilen sich in den Tag. Vier-acht-zwölf Inder oder Hilfsinder in einem Zimmer [...]. Die Zahlen jeden Tag aus der Zeitung. Genau wie die Lottozahlen, Fußballergebnisse, Börsenkurse und die Summe der toten Fixer vom Tage. Frankfurt am Main.“

Von verblüffender Unbekümmertheit ist demgegenüber der 1971 im oberbayrischen Pfaffenhofen geborene Steffen Kopetzky, dessen Debüt, „Eine uneigentliche Reise“, nichts Geringeres beigesellen soll als eine „Handenzyklopädie der Grundprobleme Europas am Ende des 20. Jahrhunderts“. Nicht nur ist Kopetzky auf praktisch allen Schiffen gewesen, er hat dort jeweils auch immer „wunderbare junge Neapolitanerinnen“ oder „blutjunge Argentinierinnen“ getroffen, die es ihm gern recht gemacht hätten, aber die Langeweile in den „Verhältnissen und Beziehungen in Europa der infinitesimalen Endzeit“ hat alles verdorben. Seither ist die Uneigentlichkeit „der Grund, auf dem wir Gegenwärt'gen glitschen“.

Auf ähnlich unsafer Arbeitsplatte ist wohl auch Heiko Michael Hartmanns Internatsschülerphantasie „MOI“ entstanden, die das Problem der Umgebungserkundung einfach durch eine Art allegorische Ganzkörperkastration gelöst hat: Der neu eingeführte Euro hat mit dem MOI-Virus eine Krankheit auf den Erzähler übertragen, die die Körperzellen zum Aufquellen und Platzen bringt.

Als wehrloser Torso betrachtet der dem finalen Platzen entgegenvegetierende Kranke riesige Krankenschwestern namens Erna, Dr. Schlimm, glücksradbesoffene Mitpatienten und Exkrementen-Graffiti an Wand und Boden – Praxis Doktor Schlingensief. Im letzten Moment, nachdem sie ihn schon in den abwaschbar gekachelten „P-Raum“ gefahren haben, erfährt er, daß seine Angebete nicht etwa „Hol-die-Etüde“ oder gar „O-die- Tüte“ heißt, sondern Solitude!

Daß sich eine rechte Lustigkeit nicht einstellen mag, könnte damit zusammenhängen, daß das Material etwas angestaubt wirkt (im Fernsehen läuft „Bonanza“), aber auch damit, daß unter der dünnen Ironiedecke eben doch die Empörung über den Skandal des Verfalls lauert.

Stephan Wackwitz („Walkers Gleichung“) ist auch in Frankfurt gewesen. Als langjähriger und weitverschickter Mitarbeiter des Goethe-Instituts hat der 1952 Geborene sich angewöhnt, aus Stadtbildern und Inneneinrichtungen elegante Anthropologien zu gewinnen. „Kleine Reisen“ versammelt fünf Essays, teils im Ausland, teils zu Hause entstanden. In einem indischen Büro mit luftbefächeltem Beamten schließt er aus Schreibtischarrangement, Affen im Hof und dem Porträt des Staatsführers Nehru, das melancholisch von der Wand blickt, auf das Schicksal der Vernunft im Land.

Im Frankfurter Bahnhofsviertel fällt sein Blick auf eine Bordelltür, die sich, je länger er beobachtet, zu einer der wenigen echten „Schwellen“ auswächst, die eine ansonsten dem unzäsierten Fortschreiten verschriebene Gesellschaft noch aufzubieten hat. Vor ihr und hinter ihr gehen Männer anders und gucken anders, was ihn an vormoderne Schwellen zum Ernstfall erinnert: Duell, Hausgeburt, Schützengraben, Hauszauber.

Durch die Straßen bewegt er sich nicht als Flaneur – hat schließlich zu tun! – noch als Leidender in einer Winternacht oder mit Metaphysik, Geist und „Köapa“, Zeit, Raum und Rausch beschäftigt. Er ist auch keine Kamera. Man merkt, daß er als Handlungsreisender in Kultur unterwegs war, beim Warenaustausch über Kompatibilität des Deutschen und des Fremden nachdenken mußte und dabei festgestellt hat, daß das Wünschen dabei immer noch geholfen hat: Anders als noch in den siebziger Jahren befürchtet, scheint es die Beobachtung der Umgebung zu schärfen, nicht zu vernebeln, wenn man sich von ihr Glück erhofft. Es gibt so keinen rechten Grund mehr, alles zu Innenwelt umzudichten, sein Begehr auf das Pflaster zu kritzeln.

Nichts mehr opfern müssen, auf keiner Schwelle, denkt Wackwitz in einem Frankfurter Bistro, mit Blick noch auf den Rotlichtdistrikt. „So soll es hier, im Hurenviertel, auch bald werden. [...] Auf dem Gehsteig wird man gleiten. Keinem Schwellengeist wird mehr etwas dargebracht werden. – Vergiß das Beste nicht! ruft es, und wer das Beste vergessen hat, den holt der Teufel.“

Jutta Raulwing: „Der General, Marlene Dietrich und ich. Eine Familiengeschichte“. Rowohlt Verlag Berlin, 120 S., 28 DM

Peter Kurzeck: „Übers Eis“. Stroemfeld Verlag, 323 S., 38 DM, erscheint im April

Steffen Kopetzky: „Eine uneigentliche Reise“. Verlag Volk&Welt, geb., 183 S., 28 DM

Heiko Michael Hartmann: „MOI“. Hanser Verlag, geb., 190S., 34 DM

Stephan Wackwitz: „Kleine Reisen“. Steidl, 93 S., geb., 20 DM

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