„Praktische Inklusion“ im Bremer Print: Neues aus dem Halbdunkel

Die Zeitschrift „Zwielicht“ verbindet persönliche Geschichten aus dem Bremer Osten mit Fachthemen der psychischen Gesundheit.

Die Villa „Wisch“ in Bremen-Sebaldsbrück. Hier, im Souterrain, entsteht die Zeitschrift „Zwielicht“. Foto: Koopmann

BREMEN taz | Ein Kugelschreiber, der mit verhaltenem Knall auf den Redaktionstisch fällt, ist für Irmgard G. schließlich zu viel. Sie springt auf und rennt zur Wand. „Ich brauche Abstand“, ruft sie – „jetzt!“ Bereits am Anfang der Konferenz hatte sie betont, sie müsse heute sehr vorsichtig sein. Die anderen hier im Souterrain der „Villa Wisch“ in Sebaldsbrück lehnen sich zurück, atmen durch und versuchen, die Pause zu nutzen. Mehr als eineinhalb gemeinsame Stunden pro Woche mutet sich die „Zwielicht“-Redaktion nicht zu. Die RedakteurInnen des Hemelinger Magazins sind in seelischen Krisen, wie sie selbst sagen – oder psychisch krank, wie Gesellschaft und medizinischer Betrieb sie bezeichnen.

Die bereits über sechs Ausgaben unregelmäßig erscheinende Zeitschrift „Zwielicht“ versucht den Spagat zwischen Stadtteil-Magazin und Zeitschrift für seelische Gesundheit. Für Projektleiter Sascha Heuer vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) ist diese ungewöhnliche Mischung eine Selbstverständlichkeit – oder besser: Es ist zwar noch keine, sollte aber eine werden: „Praktische Inklusionsarbeit“, sagt er dazu. Und weil man den Kontakt zum Hemelinger Durchschnitt sucht, liegen die rund 40 Din A5-Seiten „Zwielicht“ auch grundsätzlich kostenlos aus: In öffentlichen Gebäuden des Stadtteils, dem Tagungshaus und Redaktionssitz „Villa Wisch“ selbst und auch im auf Psychiatrie spezialisierten Klinikum Bremen Ost.

„Symbiotisch eingebunden“

Für die MitarbeiterInnen der Zeitschrift versteht sich die Kombination ohnehin von selbst. Im Lebensumfeld Wurzeln zu schlagen, spielt gerade in Zeiten seelischer Krisen eine zentrale Rolle für die Betroffenen. „Ich bin in diesen Stadtteil symbiotisch eingebunden“, sagt etwa Zwielicht-Autor Andreas Roemer.

So prallen im „Zwielicht“ Fachthemen, etwa zum Stand der Psychiatriereform oder der therapeutischen Bedeutung von Distanz-Zonen, auf Alltägliches aus der Nachbarschaft: Zur Geschichte des Hemelinger Marktplatzes oder dem Graffiti-Projekt „Sebaldsbrooklyn“, dem der Bahnhofstunnel seinen jüngsten Imagewandel von der Düsterecke zur Dauerausstellung verdankt. Die Psychiatrie-Themen hätten allerdings ein wenig überhand genommen, sagt Projektleiter Heuer. Das Lokale wollten sie zukünftig wieder stärken. Entschieden wird das letztlich von den AutorInnen. Heuer strukturiert zwar die Konferenz und übt hier und da motivierenden Druck aus, doch die Inhalte werden demokratisch festgelegt.

Journalistische Arbeit bedeutet für die ZeitungsmacherInnen auch, sich der Öffentlichkeit auszusetzen: Beim Recherchieren, wo man eben ständig sagen muss, für wen und was man schreibt – aber auch im gedruckten Produkt. Einige „Zwielicht“-Texte erscheinen anonym, doch die weitaus meisten geben ihre Verfasser an.

Das ist ein Outing. „Wenn ich meine Diagnose auf der Straße jemandem sage“, erläutert Redakteurin Sabine Weber das Problem, „geht der sofort auf 100 Meter Abstand“. Weber versteht ihren Redaktionsjob beim „Zwielicht“ daher als „politische Anti-Stigma-Arbeit“. Sie ist auch in anderen Betroffenen-Gruppen aktiv, tritt offensiv als Vertreterin der Psychiatriesierten auf.

„Warum reden plötzlich alle so hochgestochen?“

Journalistische Arbeit bedeutet für die ZeitungsmacherInnen auch, sich der Öffentlichkeit auszusetzen: Beim Recherchieren, wo man eben ständig sagen muss, für wen und was man schreibt, aber auch im gedruckten Produkt

Aber nicht alle hier verorten sich so ausdrücklich in politischen Zusammenhängen: „Warum reden heute eigentlich alle so hochgestochen?“ platzt es aus Mariana Volz heraus: „Können wir jetzt einfach mal den scheiß Artikel besprechen?“

Sie ist heute an der Reihe, ihren Text für die nächste Ausgabe zur Diskussion zu stellen und ihn, was für die Legasthenikerin besonders wichtig ist, den anderen vorzulesen. Volz hat eine persönliche Geschichte aus ihrer Schulzeit mitgebracht – aus der Zeit vor der Diagnose.

Die Angstzustände, die sie beschreibt, dürften in abgeschwächter Form allerdings die meisten kennen: Als noch die Klassenkameradin beim Reihum-Vorlesen an der Reihe ist, zählt Volz bereits die Sätze. Sie sucht nach ihrer Passage, um schon mal leise zu üben. Doch sie verzählt sich oder irgendwer liest einen Satz zu viel, und die Panik steigt auf. Aus der Hilflosigkeit wird sie patzig und bringt auf die Frage der Lehrerin, warum sie denn nun nicht lese, nur noch eins heraus: „Keine Lust“.

Die Redaktions-KollegInnen hören zu, diskutieren den beklemmenden Text sachlich. Einige von ihnen haben schon vor ihrer Diagnose journalistisch gearbeitet. Ob zum Verständnis nicht noch ein Infokasten neben dem Text hilfreich wäre, fragt einer – und es werden Ideen gesammelt. Die Autorin Volz selbst hatte bereits notiert, dass Legasthenie genetische Ursachen haben könne. Aber: „Genau das ist stigmatisierendes Denken“, sagt Sabine Weber in der Diskussion, „auch wenn das nun biologisch begründet wird.“

Auf Diagnosen reduzierte Menschen

Eben darum ist es für die Betroffenen auch schwer, über seelische Erkrankungen zu schreiben. Es besteht die Gefahr, den konkreten Menschen auf seine Diagnose zu reduzieren und von „Heilung“ zu sprechen, wo Akzeptanz gefragt wäre. Volz bleibt bei ihrem Infokasten: Ihr habe die Diagnose damals schließlich auch geholfen. „Weil mein Problem einen Namen hatte“, sagt sie, habe sie auch sich selbst gegenüber endlich mit Sicherheit sagen können, dass sie nicht einfach dümmer sei als die anderen.

In der Schule habe die Deutsch-Lehrerin ihr eine verminderte Auffassungsgabe attestiert, erzählt Volz. „Dabei hatte ich einfach nur Angst vor ihr.“ Das Wort „Legasthenie“ half ihr dabei, ihren eigenen Weg an der auf kontextfreier Leistungsbegutachtung basierten Empfehlung vorbei zu finden, ihren Nachteil zu akzeptieren und damit umzugehen. Am Ende hat sie schließlich Fachabi gemacht – mit einem Leistungskurs ausgerechnet in Deutsch. Und heute ist sie Journalistin.

Die Geschichte sorgt für Wut

Obwohl die anderen „Zwielicht“-RedakteurInnen Ähnliches erlebt haben dürften, sorgt Volz’ Geschichte für Wut. In der Schule, so die einhellige Haltung, gehen Jugendliche in Krisen grundsätzlich verloren. Und gerade da müsse doch ansetzen, wer eine andere Gesellschaft wolle. Schnell wird klar, dass über Schule noch einiges zu schreiben sein wird – in einer der nächsten Zwielicht-Ausgaben.

Doch wohl nicht in der kommenden Frühjahrsausgabe. Und sicher auch nicht mehr heute. Nach eineinhalb Stunden Redaktionskonferenz nimmt die Anspannung schließlich überhand. „Mir wird das gerade zu eng“, spricht Andreas Roemer schließlich aus, was fast allen hier ins Gesicht geschrieben steht. Doch beschäftigen wird sie ihre Zeitung auch vor der Konferenz in der nächsten Woche: Wenn sie zu Hause oder irgendwo hier in der Villa Wisch an ihren Texten feilen.

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