Ein Artist der Erkenntnis

Im Vorfeld seines 125. Geburtstags gibt es mehrere Chancen, Franz Kafka neu zu entdecken – vor allem den gerade erschienenen zweiten Band von Reiner Stachs Biografie dieses Heiligen der Literatur

Eine neben der Stach-Biografie weitere Chance, Kafka neu zu entdecken, ist die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe von Klaus Wagenbachs längst klassischem, ja geradezu kanonischem Bildband „Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben“ (Wagenbach Verlag, 256 Seiten, 39 €). Ihm entnahmen wir nebenstehende Abbildung, die in den bisherigen Auflagen nicht enthalten war. Sie zeigt eine von Kafka eigenhändig gezeichnete Postkarte an seine Schwester Ottla, die er im Dezember 1918 aus Schelesen schickte, wo er seine Tuberkulose auskurieren wollte – ein großartiges Dokument dafür, wie genau Kafka seine Lebensumstände künstlerisch begleitete, nicht nur als Autor, sondern auch als Zeichner. Deutlich sind die „Ansichten aus meinem Leben“ zu erkennen: vom Liegen im Bett über das Strecken vor einem Fenster, die Mahlzeiten, die Aussicht, die regelmäßige Kontrolle des Gewichtes auf einer Waage – Kafka sollte laut ärztlichem Rat an Körpergewicht zunehmen – bis hin zu geselligen Unterhaltungen an einem Tisch. ABBILDUNG: ARCHIV KLAUS WAGENBACH, BERLIN

VON DIRK KNIPPHALS

Dass man alles von Kafka, aber nichts über ihn lesen solle, wurde neulich auf der Homepage der Intellektuellenzeitschrift Merkur als „vernünftige Grundregel“ bezeichnet. Das liegt zu nah an einem glatten Bonmot, um wirklich wahr zu sein. Außerdem: Kafka lesen ist oft beunruhigend genug; die Vorstellung, mit seinen funkelnden Dunkelheiten von der Sekundärliteratur gänzlich allein gelassen zu werden, hätte geradezu etwas Erschreckendes. Aber an dem Satz ist unbedingt auch etwas dran.

Es gibt so viel Sekundärgerede über Kafka, dass man seine Texte beim Lesen manchmal geradezu freikratzen muss. Nach dem weltweiten Erschauern über das schuldlose Verurteiltsein und die bürokratischen Fallstricke in der verwalteten Welt hat es seit den Achtzigerjahren im Umfeld der Dekonstruktion noch einmal einen neuen Schub der Kafkaexegese gegeben; dass sich Schrift in den Körper „ein-schreibt“, so wie in der „Strafkolonie“ geschildert, bekommen angehende Literaturwissenschaftler wahrscheinlich längst in der ersten Stunde des Einführungskurses Prosa erzählt. So erhellend das im Einzelfall auch ist, tatsächlich gibt es eine Tendenz, Kafkas Texte gleichsam wegzuinterpretieren, sie auf einen Begriff zu bringen und damit ordentlich abheften zu können.

Allerdings gab es stets auch Gegenbewegungen dazu. Klaus Wagenbach hat in lebenslanger Wühlarbeit immer neue Realien rund um Kafkas Texte herangeschafft. Und in den späten Achtzigern sorgte etwa an der Universität Hamburg ein Seminar mit dem Titel „Kafka lustig lesen“ für schöne Irritation. Kernbehauptung: Man habe beim Lesen seiner Texte viel zu lachen. Und das stimmt auch tatsächlich! Spaß haben an Kafkas absurden Szenerien und rhetorischen Spitzfindigkeiten ist wohl wirklich die lustvollste Möglichkeit, das Klischee vom lebensuntüchtigen Prager, dessen Texte sorgsamer Dechiffrierarbeit bedürfen, hinter sich zu lassen.

Wer diesen Zug bislang verpasst hat, für den besteht nun, im Vorfeld des 125. Geburtstag am 3. Juli, gleich mehrfach Gelegenheit, mit aufzuspringen. Als Appetitanreger (ein im Umfeld des asketischen Kafka etwas unpassendes Wort) mag Hans-Gerd Kochs schmale, sorgsam recherchierte Studie „Kafka in Berlin“ dienen. Die deutsche Hauptstadt war dem Prager Versicherungsbeamten ein Sehnsuchtsort, hier wollte er hin, nicht nur in der Zeit, da er mit der Berlinerin Felice Bauer verlobt war. Einen kalten Winter lang hat er denn ja auch 1923/24 in Berlin-Steglitz gewohnt.

In Kochs Studie erfährt man viel über das Pulsieren der deutschen Metropole. Und man erfährt viel über Franz Kafkas Lebensneugier. Er interessierte sich für alles, die Revuen um die Friedrichsstraße, den öffentlichen Nahverkehr, die Zeitungen und den Botanischen Garten. Und es ist einfach zu schön, von Kafkas ausdrücklichem Lebensplan zu lesen, „Journalist oder sonst etwas ähnliches“ in Berlin werden zu wollen – bis in die exakte Formulierung hinein haben sich genau das seitdem viele junge Autoren so ausgemalt.

Franz Kafka verliert rein gar nichts, wenn man sein Bild weg von einem Heiligen der Literatur und hin zum Normalen schiebt, im Gegenteil. Man hat nach Kochs Studie sofort Lust, sich noch einmal auf Entdeckungsreise in Kafkas Tagebücher zu begeben oder sich auch noch einmal seine Briefe an Felice anzusehen. Und man kann dann immer wieder aufs Neue gar nicht genug darüber staunen, wie genau er etwa die technischen Errungenschaften seiner Zeit registrierte und wie weit geöffnet sein Wahrnehmungshorizont war.

Kochs Studie ist ein schönes Beispiel für einen Umgang mit Kafka, der ihn nicht wegdeutet, sondern der zu ihm hinführt. Genau diesen Effekt kann man nun auch ins Große gewendet haben: anhand des gerade erschienenen zweiten Bandes von Reiner Stachs voluminöser Kafka-Biografie. Im Vorwort des 2002 erschienenen ersten Bandes, der die entscheidenden Jahre von 1910 bis zum Ersten Weltkrieg umfasst, hat der Literaturwissenschaftler sein pragmatisches Vorgehen erläutert: „Empathie lautet das Zauberwort des Biografen“, heißt es da fast entschuldigend, nachdem man einiges über die Schwierigkeit, ja im Grunde sogar Unmöglichkeit einer Biografie erfährt. Einfühlung also. Im Bewusstsein der Tatsache, dass man einen fremden Menschen – und nun schon gar Kafka! – nie ganz verstehen kann, ist es Reiner Stach nach akribischer Recherche gut gelungen, eine möglichst plausible Geschichte von Kafkas Lebens zu erzählen.

Von 1914 bis zu Kafkas Tod, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag im Jahr 1923, geht dieser zweite Band. Er behandelt: die zentrale Bedeutung des Ersten Weltkrieges, dessen technisiertes Töten Kafka als Versicherungsbeamter eingebunden in die bürokratische Abwicklung der Kriegsfolgen erlebt (Kafka wollte unbedingt Soldat werden, war aber in seiner Versicherungsanstalt unabkömmlich). Den grundstürzenden Regimewechsel von der K.-u.-k.-Monarchie zum tschechischen Nationalismus. Die zweite Verlobung mit Felice Bauer mit all ihrem neurotischen Potenzial, aber auch dem, so Stach, „Wunder von Marienbad“ – einiger glücklich verbrachter gemeinsamer Tage in dem Kurort. Die weiteren Frauenbeziehungen zu Julie Wohryzek, Milena Jesenská und Dora Diamant. Die Tuberkulose-Erkrankung. Die ausgedehnten Erholungsaufenthalte auf dem Land unter ärmlichen, aber glücklichen Umständen bei der geliebten Schwester Ottla. Schließlich die Frühpensionierung, Umzug nach Berlin, Sanatorium und Tod. Das sind die Lebensumstände, in denen Kafkas Spätwerk entsteht. Und Reiner Stach sucht stets nach den Übergängen, danach, wo in einer Tagebucheintragung oder einem Brief eine Formulierung aus einer Erzählung schon ausprobiert wurde oder wo die Prosa wie ein gelegentlich verfremdendes Echo auf die Lebenserfahrungen Kafkas zu antworten scheint.

Das entscheidende Wort, das in dieser Biografie Leben und Werk zusammenhält, lautet: Erkenntnis. „Vollständiges Begreifen meiner Lage“ – anlässlich dieses halb erschöpften, halb beglückten Tagebucheintrags Kafkas im Umfeld der „Process“-Niederschrift notiert Stach: „Ein hohes Selbstlob, nach seinen Maßstäben, vor allem aber ein Zeichen dafür, wie eng für Kafka die gelingende schriftstellerische Arbeit mit durchgreifender und illusionsloser Selbsterkenntnis verknüpft war. Diese Erkenntnis mochte bitter, ja vernichtend sein […], doch zu solcher Klarheit überhaupt durchzustoßen, barg ein Moment von Glück, das er von der Lust am sprachlichen Gelingen gar nicht zu unterscheiden vermochte.“

In der Tat ist das ständige Bemühen nach gedanklicher und zugleich sprachlicher Wahrhaftigkeit und die Lust an ihrem Gelingen der Punkt, von dem aus man den ganzen Kafka haben kann. Wenn man ihn als das Zentrum seines Denkens ansetzt, braucht man die alten Unterscheidungen zwischen Leben und Schreiben, die in der Kafka-Forschung zur Folklore gehören, nicht mehr zu treffen oder wenigstens nicht mehr so bedeutend zu machen. Selbst die artistischen Erzählperspektiven seiner späten Prosa bleiben, wie Stach verdeutlicht, auf Erkenntnis bezogen, auf Erkenntnis der Lage und seiner selbst darin. Kafka erscheint bei Stach als ein Artist des inneren Erlebens, als jemand, dem es immer wieder gleichsam gelingt, im Moment des Denkens die Sprache sozusagen neu zu erfinden, um jeweils die Besonderheit der beschriebenen Person, des skizzierten Moments oder des gedachten Gedankens erfassen zu können.

Innere Kämpfe, was in seinem Leben das Richtige sei, führt inzwischen ein jeder – nur dass Kafka sie unerschrockener führte

Von Kafkas „unkonventionellen Zügen, die ihm das alltägliche Erleben ebenso reicher wie schwieriger machen“, schreibt Stach einmal. Sie in den Mittelpunkt zu stellen, macht nun keine wirklich grundstürzende Neudeutung dieses Autors aus. Aber es ist überzeugend, dass man bei Kafka den Reichtum seines inneren Erlebens erfassen muss (eigentlich eine Binse bei Dichterbiografien, nur dass man es mit einem solchen Reichtum eben sonst nicht zu tun bekommt). Sobald man das tut, entkommt man auf der Stelle allen Erzählungen von der angeblichen Ereignisarmut seiner Biografie. Kafka – und das deutlich zu machen ist das Tolle an Stachs Buch – hat ein spannendes Leben geführt. Und das Spannende daran, Kafka zu lesen, besteht in der Chance, von der Hellsichtigkeit, die mit diesem Leben verbunden war, zehren zu können.

Es ist dieser Kafka – und nicht der klischierte Autor des sprichwörtlich Kafkaesken –, der uns heute nahe ist. Anhand seiner Liebesbeziehungen kann man sich das gut klarmachen. Kafkas Schwestern wurden noch mit der Idee behelligt, über einen Heiratsvermittler einen Bräutigam finden zu sollen. Da muss Kafkas Ringen mit sich selbst und seinen Verlobten um die Möglichkeit einer – guten! – Ehe natürlich seltsam erscheinen. Aber die Realität ist ihm längst näher gekommen. Innere Kämpfe, was in seinem Leben das Richtige sei, führt inzwischen ein jeder – nur dass Kafka sie immer noch klarer und unerschrockener führte. Und dass man bei ihm so gut wie bei sonst keinem Autor sehen kann: Wenn man bei diesen Kämpfen mit der Konzentration nur um ein Weniges nachlässt, landet man schon in der Unwahrheit.

Je komplexer das Innenleben wird, desto wichtiger wird Kafka! Und es ist gut, mit Stachs Buch einen Text über Kafka zu haben, der einem das deutlich macht.

Dass man eben doch manchmal etwas über Kafka lesen sollte, weiß übrigens auch der Merkur. Das Bonmot war Teil eines Überblicks, in dem auch ein luzider und in seinem Verlauf geradezu berührender Essay des Literaturwissenschaftlers Burkhard Müller über Kafkas späte Tierparabeln angekündigt wurde.

Merkur, Ausgabe April 2008 Hans-Gerd Koch: „Kafka in Berlin“. Wagenbach, Berlin 2008, 144 S., 15,90 €ĽReiner Stach: „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis“. Fischer, Frankfurt am Main 2008, 728 S., 29,90 €