■ Präsident Jelzins Ankündigung, volle vier Jahre zu amtieren: Dementis und Gerüchte
Jelzins Ankündigung, daß er noch vier Jahre im Amt bleiben wolle, beugt Gerüchten vor, die nach Lebeds Rücktritt lanciert worden waren. Wie meist in der russischen Welt der dichten Intrigen wurde auch dieses Gerücht gestreut, um kunstvoll einen politischen Zweck zu erreichen. Das Gerücht über den bevorstehenden Rücktritt Jelzins sollte andere dazu veranlassen, sich auf ein Machtvakuum einzurichten, die eigene Loyalität neu zu justieren. Auch die Entlassung Lebeds war von Gerüchten begleitet gewesen. Sie hatten ihren Ursprung in Jelzins unmittelbarer Umgebung. Es ist sicherlich diese Umgebung, die Jelzin zum Dementi aller Rückzugsabsichten bewog; sie kennt die Bedeutung von Gerüchten nur zu gut.
Ein Zentrum, das die Macht konzentriert und sie gleichzeitig in untergeordneten Strukturen ausfließen läßt, birgt Risiken. Diese untergeordneten Strukturen, die Welt von Präsidentenanwärter Tschubajs, von Ministerpräsident Tschernomyrdin und – gerüchteweise – auch von Jelzins Tochter, besitzen allerdings eine nur abgeleitete Macht. Sie sind gleichsam Schattenherrscher, die durch die legitimen politischen Institutionen hindurch regieren. Damit sind sie gleichzeitig Objekt und Quelle immer neuer Gerüchte. Es ist schwer, sich politische Prozesse im russischen Herrschaftszentrum vorzustellen, ohne Verschwörungen zu halluzinieren.
Die Macht der Schattenstrukturen, wie sie jetzt im Kreml herrschen, ist um so größer, je besser es ihnen gelingt, das Oberhaupt zu isolieren und es mit falschen oder unzureichenden Informationen zu versorgen. Der Höhepunkt der Macht des Hofstaats, der mit der Abwesenheit der Zentralperson erreicht wurde, ist zugleich der Punkt, an dem die Gefährdung der ganzen Konstruktion einzusetzen scheint. Denn nun fällt das Licht der Öffentlichkeit mehr als bisher auf die Umgebung. Wer jedoch aus den Kulissen tritt, in denen er bisher flüsternd gestanden hat, wird gesehen; und was die Schattenmacht nicht gut verträgt, ist ein Publikum, das desillusioniert wurde.
Hinter allen Gerüchten, Dementis und Stellungnahmen, die durch die Medien transportiert werden, zeigt sich aber nicht nur ein Zusammenhang von Bündnissen, wechselnden Loyalitäten, Einflüsterungen, Gerüchten, Gewaltakten und Intrigen. Es zeichnet sich offenbar die Institutionalisierung eines ganz neuen Herrschaftsgebildes ab, für das legitimierende und beschreibende Begriffe sich erst bilden und das wesentlich durch Illusionen, Gerüchte und Medienpräsenz bestimmt ist. Erhard Stölting
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