Postpunk-Spezialist Reynolds: "Punk war bloß der Urknall"
30 Jahre Punk? Gähn. Der britische Musikjournalist Simon Reynolds hat ein grandioses Buch über die bessere Musik geschrieben: Postpunk. Und über Do-it-yourself und feministische Höhenflüge.
taz: Herr Reynolds, beginnen wir ketzerisch: Kann man wirklich sagen, Punk war eine tolle Idee, aber die gute Musik, die kam erst danach?
Simon Reynolds: Ich liebe auch eine Menge Punkrock. Aber ich habe das Gefühl - und das hatte ich bereits, als Punk passierte -, es mit einer ziemlich limitierten Form von Musik zu tun zu haben. Punk war notwendig, um den Bombast und die Selbstzufriedenheit des Siebzigerjahrerocks abzuwerfen. Aber schon in dem Moment, als das passierte, war es für die Musik an der Zeit, sich erneut auszudehnen, zu wachsen und sich zu entwickeln. Für mich und für viele andere damals war die interessanteste Musik im Zusammenhang mit Punk deswegen eben Postpunk, weil der sich in alle möglichen Richtungen bewegte, die unterschiedlichsten Einflüsse in sich aufnahm - und trotzdem an gewissen Punkprinzipien festhielt: an der Idee des Minimalistischen und an der Weigerung, musikalisches Können prahlerisch auszustellen. Gleichzeitig war Postpunk dabei jedoch dem Fortschritt und der Veränderung verpflichtet. Genau wie Sie sagen also: Das, was Punk überdauert hat, ist eine Idee, die Vorstellung des Do-it-yourself-Prinzips. Vergeude keine Jahre mit dem Üben an deinem Instrument, bevor du es in einer Band versuchst! Wenn du etwas zu sagen hast, steh einfach auf und sag es!
Simon Reynolds,1963 in London geboren, llebt als freier Autor und Musikkritiker in New York. Zusammen mit seiner Frau Joy Press schrieb er 1995 das für die Genderdebatten in der Rockmusik wegweisende Buch "Sex Revolts", ein paar Jahre später das beste Buch über elektronische Musik, "Energy Flash". Reynolds weiß sein enzyklopädisches Wissen über Popmusik in einem klaren Stil auszubreiten - gern angereichert mit dicht beschreibenden und sehr amüsant erzählten Anekdoten, Politik- und Stadtentwicklungsgeschichte sowie ein wenig poststrukturalistischer Theorie. Für sein Buch über Postpunk, "Rip It Up And Start Again" hat er 124 Interviews geführt sowie massenhaft alte Magazine und Musikzeitschriften ausgewertet. Das Buch erwähnt jede Band und Subströmung der Postpunk-Jahre 1978 bis 1984 und ordnet sie ein: Reynolds klappert die relevanten Postpunk-Szenen in den britischen und US-amerikanischen Metropolen ab, in einem zweiten Teil widmet er sich Synthiepop, New Pop, Gothic, Industrial und Ska. Seine maßgebliche These lautet, dass Punk nur der Urknall war, das eigentlich Spannende aber erst in dessen Folge stattfanden.
Als Sie Ihr Buch geschrieben haben, war das Postpunk-Revival im vollen Schwange, Bands wie The Rapture oder das New Yorker Label DFA waren angesagt. Spricht davon heute überhaupt noch jemand?
Ich habe mein Buch 2004 fertiggeschrieben, 2005 erschien es auf Englisch. Zu dieser Zeit war das Postpunk-Revival noch eine Riesensache. Jetzt, das gebe ich zu, ist das schon wieder gegessen. Obwohl natürlich immer noch manche das letzte Album von LCD-Soundsystem großartig finden, andere das von den Liars. Aber als eine rockhistorische Periode, auf die sich junge Bands beziehen, ist Postpunk eindeutig nicht mehr so angesagt. Was als nächstes kommt, weiß ich nicht. Das Problem ist ja, dass nach 1985 Rock allgemein zu einer Retro-Sache wurde. Da stellt sich schon die Frage, wie man etwas recyceln kann, das bereits eine Form von Recycling ist. Aber es geht. Wir sehen das ja andauernd. Ein Grunge-Revival könnte anstehen oder ein Manchester-"Baggy"-Revival, das sich auf Bands wie die Happy Mondays bezieht. Viele reden auch von einem Shoegazing-Revival, das uns bevorstehen könnte.
Sie erklären die Postpunk-Periode 1984 für beendet. Was danach kam, so sagen Sie, war alles retro. Aber gab es nicht in den späten Achtzigern noch mal postpunkartige Bewegungen, die sich auf Punk bezogen, aber etwas Eigenes kreierten, zum Beispiel den sogenannten C86-Sound mit Primal Scream als seinen bekanntesten Vertretern. Oder Labels wie Él oder Sarah, die sich eine dandyeske, typisch englische Attitüde gaben?
Nicht nach meiner Postpunk-Definition. Ich sehe einen echten Bruch zwischen Postpunk (der experimentell und nach vorne blickend war und entweder von Dancemusik beeinflusst war oder elektronisch) und Indierock, der lediglich auf Gitarre, Schlagzeug, Bass und Sixties-Einflüssen beruhte. C86 hatte gewisse Postpunk-Bezüge - das typisch Englische, die emotionale Zerbrechlichkeit und die weinerlichen Vocals, wie man sie von den Buzzcocks und den Television Personalities her kannte und dazu den schrammelig krachigen Gitarrensound der Swell Maps und von Subway Sect. Aber das war auch alles. C86 war Postpunk ohne die Einflüsse schwarzer Musik und ohne politisches Bewusstsein, was eigentlich die beiden interessantesten Dinge an Postpunk sind. Labels wie Sarah fehlte die Postpunk-Ambition, musikalisch wie auch in seinem mangelnden Willen zur Macht. Es ging hier eher um einen Rückzug aus dieser Welt als um eine Auseinandersetzung mit ihr.
Die Postpunk-Ära war die Zeit stilprägender Independent-Labels. Factory in Manchester oder Rough Trade in London standen für die Konsumenten damals für eine ganz bestimmte Ästhetik und legten auch durchaus eine Art Willen zur Macht an den Tag. Gibt es in Zeiten von iTunes überhaupt noch Bedarf für derart emblematische Label-Identitäten?
Es gibt so viele Independentlabels wie früher, selbst bei iTunes gibt es einen Service - Emusic -, der ausschließlich mit Musik von Independentlabels handelt. Das Einzige, was sich wirklich überlebt hat, ist die politische Aussage der Unabhängigkeit, die früher so wichtig war bei den kleinen Labels. Independent bedeutet heute nichts anders mehr als das Bedienen eines Nischenmarkts.
War Postpunk eigentlich wirklich die Ära, in der Frauen aus ihren Rollen als Rockröhre oder Gesangsfee befreit wurden, worauf Sie auch in Ihrem Buch immer wieder hinweisen? Oder wird da im Nachhinein nicht einiges verklärt?
Es gab in dieser Zeit jede Menge weibliche Musikerinnen. Etwa in der "No Wave"-Szene New Yorks mit Lydia Lunch, mit China Burg und Nancy Arlen von der Band Mars, Pat Place und Adele Bertei bei den Contortions oder Ikue Mori bei DNA. Auch in Europa war das eine Zeit für großartige weibliche Ausdrucksweisen, ich denke da an Bands wie Kleenex, Malaria und viele andere. Feminismus war ein starker Motor damals. Nach der Postpunk-Ära geriet die Rolle der Frauen erneut ins Schwanken, es kamen Phasen, in denen Frauen zurückgedrängt wurden in die Position der Frontsängerin einer rein männlichen Band, etwa im New Pop. Erst später gab es dann wieder Figuren wie Kim Gordon von Sonic Youth, Bands wie die Throwing Muses und sogar feministische Höhenflüge wie die ganze Riot-Grrl-Bewegung mit ihren Wütende-Frauen-Bands wie Hole und Babes in Toyland. Man kann jedenfalls sagen: Nach Postpunk war es nicht mehr so wie vorher in der Rockmusik, als es wirklich so gut wie keine weiblichen Gitarristinnen, Schlagzeugerinnen und Bassistinnen gab.
Die deutsche Ausgabe Ihres Buchs haben Sie um ein kurzes Kapitel über Postpunk aus Deutschland erweitert. Warum fehlte das in der englischen Originalausgabe - in die es gerade mal DAF und die Einstürzenden Neubauten geschafft hatten? Schließlich war deutscher Postpunk, Bands wie die Tödliche Doris oder Palais Schaumburg, doch auch international ziemlich bedeutend.
Man könnte tatsächlich problemlos ein ganzes Buch über deutschen Postpunk schreiben. In dem neuen Kapitel über die deutsche Szene sage ich ja auch, dass Deutschland nach Großbritannien die führende Nation für Postpunk und Kunstpunk war, noch vor Amerika. Mir fehlte beim Verfassen meines Buchs schlichtweg die Zeit und das Geld, um dies gebührend zu würdigen. Ein Problem für mich war auch, dass es kaum Dokumentationen über die deutsche Szene auf Englisch gibt - und ich kann kein Deutsch. Deutschland blieb für mich aufgrund der Sprachproblematik ein schwarzes Loch.
Das wichtigste Kennzeichen von Postpunk war: "Anything goes." Dub, Soul, Funk, Disco - alles konnte als Einfluss geltend gemacht werden. Die Clash riefen zur "Punky Reggae Party", was eindeutig gegen die Bestrebungen der rechtsradikalen National Front gerichtet war. Junge Bands von heute, ich denke da zum Beispiel an Menomena oder Architecture From Helsinki, berufen sich ebenfalls auf ein Anything-Goes und rattern in ihrer Musik so viele unterschiedliche Einflüsse runter, dass einem ganz schwindelig wird. Nur, warum diese Bands das tun, wird mir nie ganz klar.
Da stimme ich Ihnen absolut zu. Es gibt heute einen ziellosen Eklektizismus, der daher kommt, dass es so einfach geworden ist, zu sampeln und mit Hilfe der Technologie ziemlich genaue Kopien eines bestimmten Sounds zu erzeugen. Der Eklektizismus, das Zusammenwürfeln und die Fusion unterschiedlicher Stile, hat im Postpunk noch etwas ausgedrückt. Es brach mit dem Konservativismus des klassischen Rock und hatte etwas Politisches. Wenn etwa die Talking Heads Folkloremusik aus aller Welt erkundeten, war das eine antikoloniale Aussage. Oder wenn die Pop Group sang: "Western values mean nothing to her."
Was ist für Sie persönlich die definitive Postpunk-Band und warum?
Das ist ziemlich schwierig zu sagen. Ich würde gerne einen Kompromiss wählen aus Public Image Ltd, The Slits, den Talking Heads und Scritti Politti. Wenn ich ein einziges Album nennen müsste, würde ich zu "Cut" von den Slits greifen - einfach eine perfekte Platte, mit einer wunderbaren Mischung aus Überschwang und Traurigkeit. Scritti Politti stehen für suggestive, leicht unfertige Musik, voller Schönheit inmitten von jeder Menge Kompliziertheit. Public Image Ltd dagegen waren einfach das Zentrum des Postpunk-Universums: Ihre Platte "Metal Box" war das definitive Album der Zeit, und die Geschichte von Johnny Rotten, der auszog, um John Lydon zu werden und sich dann wieder in Rotten zurückzuverwandeln, bildet das narrative Rückgrat meines Buchs. Und die Talking Heads: Keine andere Band machte so gigantische Sprünge wie sie. Es ist unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit sie sich mit jedem ihrer ersten vier Alben wieder veränderten. Außerdem kenne ich keine andere weiße Band, die so funky ist wie die Talking Heads mit David Byrne, der, das muss auch noch gesagt werden, ein wirklich origineller Sänger und Texter ist.
INTERVIEW: ANDREAS HARTMANN
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