■ Portrait: Ivo Andric
Foto: Archiv
Dichtergeburtstage sind üblicherweise Anlaß pietätvollen Eingedenkens, mehr nicht. Im Falle Ivo Andric' ist das anders. Die Lebensgeschichte des heute vor 100 Jahren geborenen bosnischen Autors ruft die historischen Voraussetzungen des gegenwärtigen Mordens auf dem Balkan in Erinnerung. Geboren gerade 14 Jahre nach dem Ende der türkischen Herrschaft, wurde der Student der Slawistik und Geschichte als Angehöriger einer bosnisch- nationalistischen Gruppierung im Ersten Weltkrieg verhaftet und für drei Jahre gefangengesetzt. Die serbokroatische Union bestimmte ihn 1918 zum Sprecher der Nationalversammlung. Nach seinem Studium trat Andric in den diplomatischen Dienst ein. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs befand er sich als Gesandter in der Reichshauptstadt Berlin. Ein Angebot zur Emigration in die Schweiz schlug Andric aus, in Belgrad wurde er alsdann interniert. Drei Romane, die Andric' späteren Weltruhm begründeten, entstanden in dieser Zeit. Nach dem Krieg stand er nicht mehr in diplomatischen Diensten, war vielmehr Vorsitzender zunächst des jugoslawischen, dann des serbischen Schriftstellerverbands. Ein Funktionär, zugleich ein Chronist balkanischer Geschichte mit pessimistischer Botschaft.
In seiner Prosa — wie in seinem bekanntesten Roman „Die Brücke über die Drina“— geht es um mohammedanische Bosniaken und orthodoxe Serben, um bosnische Kroaten wie um ehemals spanische Sephardim. Die Brücke ist Andric' Symbol: die Verbindung von Abend- und Morgenland, das Zusammenleben von Serben und Bosniern, das auch Teil seines persönlichen Versöhnungs- Engagements war. Dies alles scheint nun verloren. Auch der Autor selbst, der 1961 den Literatur-Nobelpreis erhielt und 1975 in Belgrad starb, war schon früher skeptisch. Lange bevor Bosnien zu einem Totenhaus wurde, stellte Andric fest: „Wir alle sind längst tot, nur daß wir uns der Reihe nach beerdigen.“ Heute finden die Beerdigungen alle zur gleichen Zeit statt: Auch der Multikulturalismus, von dem er erzählte, hat nicht nur in Ex-Jugoslawien vorerst ausgedient. „So geht alles dahin“, war das Fazit seiner literarischen Arbeit. Der Autor wäre der erste gewesen, der dem widersprochen hätte. fmg
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