Portrait der Cellistin von Auschwitz: Musizieren, um zu leben
Kammermusik im Angesicht der Gaskammern des Vernichtungslagers: Anita Lasker-Wallfisch ist eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters von Auschwitz.
LONDON taz | Nur einmal hat Anita Lasker-Wallfisch zum Spaß gespielt, damals. Fania Fénelon, mit der sie im Orchester war, schrieb Beethovens Pathétique-Sonate aus dem Gedächtnis auf, arrangierte sie als Streichquartett - "und wir spielten das Stück zu unserem eigenen Vergnügen", erinnert sich Anita Lasker-Wallfisch. "Ein Kammermusikabend in Auschwitz! Damit erhoben wir uns, im wahrsten Sinne des Wortes, über das Inferno, in dem wir lebten, in Sphären hinaus, die nicht von den Erniedrigungen einer Existenz im Konzentrationslager berührt werden konnten."
Auf einem hochlehnigen gepolsterten Plastikstuhl sitzt Anita Lasker-Wallfisch im Garten ihres kleinen Hauses. Es liegt im Londoner Stadtteil Kensal Rise. An die Straßen perlen sich die typisch englischen Häuschen, die schöner nie mehr gebaut wurden. Es ist ein Multikultibezirk mit viel Grün, gut für junge Familien. Eine Bürgerinitiative kämpft für den Erhalt der Stadtteilbibliothek. Das größte Gasthaus im Viertel hat eine riesige Spielecke für Kinder und nur Biospeisen. Gegenüber von Anita Lasker-Wallfischs Backsteinhaus liegen vier öffentliche Tennis-Courts, sehr gepflegt. Im Garten der 85-jährigen Dame ist an diesem sonnigen Samstagnachmittag leise das Ploppen der Tennisbälle zu hören. Vögel zwitschern, es ist still. Und zwischen Rosenbüschen und Passionsblumensträuchern erzählt Anita Lasker-Wallfisch von einer Welt, die weiter weg ist als der Mond. Vom NS-Vernichtungslager Auschwitz - und von der Musik.
"Rauchen kann tödlich sein" steht auf der Packung, aus der Anita Lasker-Wallfisch sich in kurzen Abständen Zigaretten fischt. Das ist angesichts dessen, was sie zu erzählen hat, absurd. Denn die weißhaarige Frau ist eine von, nach ihrer Rechnung, vier oder fünf noch lebenden Mitgliedern der Frauenkapelle in Auschwitz-Birkenau. Es war ein Orchester von rund 40 Häftlingen, die tagtäglich um ihr Leben spielten. Auf Befehl der Lagerleitung intonierten sie vor allem deutsche Schlager, Operetten- und Marschmusik. Immer morgens und abends. Beim Abmarsch und der Wiederkehr der Tausenden, zu Skeletten abgemagerten Zwangsarbeiter, die die tägliche Schufterei überlebt hatten. Die Musik rettete den musizierenden KZ-Insassen das Leben. "An der schönen blauen Donau" in Sichtweite der Gaskammern.
Das Leben: Anita Lasker-Wallfisch wurde 1925 in Breslau geboren. Sie wuchs in einer jüdische Familie auf. Die Eltern wurden im Holocaust ermordet, ihre Tochter Marianne konnte nach England fliehen. Anita und ihre Schwester Renate überlebten die Lager Auschwitz und Bergen-Belsen. Anita spielte im sogenannten Frauenorchester von Auschwitz. Die Schwestern wanderten nach dem Krieg nach Großbritannien aus.
Das Buch: Auf Deutsch sind die Memoiren von Anita Lasker-Wallfisch im Jahr 2000 als Taschenbuch bei Rowohlt erschienen. Titel: "Ihr sollt die Wahrheit erben".
Die Lesung: Am Donnerstag, 26. Mai, wird Anita Lasker-Wallfisch um 19 Uhr in der Berliner Zionskirche (Zionskirchplatz, 10119 Berlin) aus ihrem Buch lesen. Danach wird sie mit dem Münchner Historiker Michael Wolffsohn sprechen. Zudem wird die jüdische Kantorin Avitall mit ihrer Band spielen. (ges)
Vielleicht rutscht deshalb Anita Lasker-Wallfisch ab und zu in den Sarkasmus ab. Als sei anders über diese Hölle, die sich jeder Beschreibung entzieht, nicht zu berichten "Wir erfuhren", schreibt Anita Lasker-Wallfisch, "dass man Lager in die Luft gesprengt hatte, bevor sie befreit werden konnten. Nicht erstaunlich … Wer will sich schon mit Millionen von stinkenden, verwesenden Leichen erwischen lassen."
Galgenhumor
Als sie diese Passage ihrer Memoiren in ihrem Garten hört, huscht ein kurzes Lächeln über ihr meist so ernstes, schönes Gesicht. "Ein bisschen Galgenhumor braucht man für diese Situation", sagt die gebürtige Breslauerin. Ihr Sohn Raphael Wallfisch, selbst ein bekannter Cellist im Vereinigten Königreich, nennt seine Mutter schlicht "tough". Sie hat kein Problem damit. "Sicher bin ich tough", sagt sie lachend. "Sonst würde ich hier nicht sitzen." Als vor Jahren eine Interviewerin der Spielberg Foundation mit ihr ein Zeitzeugen-Gespräch aufnehmen wollte, schmiss Anita Lasker-Wallfisch sie aus dem Haus. Weil sie nicht gut vorbereitet war - und ein etwas doofe Frage zu ihrem Cello in Auschwitz stellte.
Anita Lasker-Wallfisch wurde 1925 in ein typisches deutsch-jüdisches Elternhaus der bildungsbürgerlichen Klasse geboren. Ihr Vater war ein angesehener Rechtsanwalt und Träger des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg, ihre Mutter war Geigerin. Nach 1933 glaubten die Eltern noch lange, dass der Nazi-Spuk bald verschwinden würde. Aber schließlich beschlossen sie, Anitas älteste Schwester Marianne nach Großbritannien in Sicherheit zu bringen - sie selbst wurden 1942 deportiert und wahrscheinlich recht bald ermordet. Anita und ihre ältere Schwester Renate kamen in ein Waisenhaus. Zugleich mussten sie als Zwangsarbeiterinnen in einer Papierfabrik arbeiten, wo sie Klopapier herstellen mussten. Sie versuchten dabei jedoch auch, für französische Kriegsgefangene Pässe zu fälschen. Mit zwei Pässen wollten sie selbst nach Frankreich fliehen. Doch schon am Bahnhof schnappte die Gestapo sie.
Im Juni 1943 wurden Anita und Renate wegen Urkundenfälschung verurteilt - und Anita im Dezember dieses Jahres nach Auschwitz deportiert. Sie wurde nicht in einem der üblichen Deportationszüge, sondern als Strafgefangene ins Vernichtungslager geschafft. Zudem kamen an diesem Tag nur wenige Transporte an.
Das war Glück im Unglück. Denn so landete sie nicht sofort in den Gaskammern, sondern kam mit einem anderen Häftling ins Gespräch. Dieser Frau, die sie rasierte und die ihr die Häftlingsnummer eintätowierte, erzählte sie, eher gedankenverloren, dass sie Cello spiele. "Das ist ja fantastisch!", rief die junge Frau zu der splitternackten Anita, "du wirst gerettet werden."
Ihre Retterin war Alma Rosé, deren Vater über Jahre der Erste Konzertmeister der Wiener Philharmoniker war. Alma Rosé, eine Nichte Gustav Mahlers, war vor ihrer Deportation eine europaweit gefeierte Violinistin gewesen. In Auschwitz leitete sie das Frauenorchester - und da es zunächst nur aus wahllos zusammen gewürfelten Sopran-Instrumenten bestand, war ein Cello ein Geschenk des Himmels: endlich eine Bass-Stimme! "Ich glaube, die Alma hat nie realisiert, wo sie da ist in Auschwitz", erzählt Anita Lasker-Wallfisch in ihrem Garten. "Sie hat einfach weitergemacht, so wie man Musik macht." Das habe nicht jeder verstanden. "Sie war wahnsinnig streng mit uns. Aber jetzt sind wir ihr sehr dankbar dafür." Fast alle Musikerinnen haben die Lager überlebt.
Der Strohhalm
Die Frauenkapelle war ein Strohhalm. Selbst wer ein Instrument nur schlecht spielen konnte, wurde als Notenschreiberin eingesetzt. Denn meist lagen keine oder nur unzureichende Partituren für das Orchester vor. Alma Rosé setzte höchste Ansprüche - und verdonnerte Anita sogar einmal wegen schlechten Spiels dazu, eine Woche lang auf den Knien den Orchesterblock aufzuwischen."Wir hatten Angst vor ihr", erzählt Anita Lasker-Wallfisch. "Aber es war besser, Angst vor ihr zu haben, als Angst vor den Mördern." Für den KZ-Arzt Mengele spielte das Orchester einmal die "Träumerei" von Robert Schumann. Er hatte sie sich gewünscht. "Merkwürdig, dass Mengele überhaupt wusste, dass es so etwas gibt - ein Massenmörder", sagt die alte Cellistin.
Die Frauenkapelle war der Hort der Menschlichkeit in Auschwitz, auch wenn Fania Fénelon in ihrem einschlägigen Buch über das Orchester das Gegenteil schreibt. Darüber kann sich Anita Lasker-Wallfisch minutenlang aufregen. "Die Frau, die das geschrieben hat, haben wir absolut fallen gelassen", sagt sie. "Das ist eine Unmöglichkeit." Wenn nötig, teilten die Frauen der Kapelle Anita Lasker-Wallfisch zufolge das Wichtigste überhaupt in diesem Konzentrationslager: Brot. Die Solidarität endete auch nach der Deportation des Orchesters ins Konzentrationslager Bergen-Belsen nicht. Dort gab es schlicht nichts mehr - vor allem so gut wie nichts mehr zu essen.
"In Belsen war das große Krepieren", sagt Anita Laser-Wallfisch. Sogar einen Fall von offensichtlichem Kannibalismus hat sie gesehen. Ihre Schwester Renate, die Anita im Auschwitz zufällig wieder gefunden und nur dank ihrer Hilfe überlebt hatte, ging freiwillig auch nach Bergen-Belsen mit. Eine Entscheidung für einen gemeinsamen Gang in den Tod? "Man wusste ja nicht, wo der Tod ist", sagt Anita. Aber die Idee war schon: "Jetzt trennen wir uns nicht noch mal." Nach dem Krieg heiratete Renate übrigens den deutschen Publizisten Klaus Harpprecht. Sie leben heute in Südfrankreich.
Anita und Renate überlebten das KZ Bergen-Belsen nur gerade so, und zwar, wortwörtlich, zwischen Leichenbergen. Nach ihrer Befreiung Mitte April 1945 und einem knappen Jahr in Brüssel wanderten die Schwestern nach Großbritannien aus - England ist Anita zur neuen Heimat geworden.
Das neue Orchester
Hier gründete Anita Lasker-Wallfisch mit anderen Musikern das renommierte English Chamber Orchestra. Und hier hat sie den Pianisten Peter Wallfisch geheiratet. Das Paar bekam zwei Kinder - mittlerweile hat Anita Lasker-Wallfisch fünf Enkel. Fast alle sind Musiker. Ab und zu spielt einer ihrer Enkel Cello im Musikzimmer, in dem noch zwei Flügel ihres 1993 verstorbenen Mannes stehen. Auf den Flügeln, neben dem Kamin, im Flur, überall im Haus sind Fotos ihrer Familie zu sehen und auch eines mit Thronfolger Prince Charles. Ein Leben in Schwarz-Weiß und in Bunt.
Die toughe Dame hatte nie Probleme, Stücke vorzutragen, die sie schon in Auschwitz gespielt hatte. Außerdem: Wer will schon Märsche hören? Die mochte sie schon damals nicht. Die Cellistin spielte unter anderem mit Benjamin Britten und Daniel Barenboim. Heute greift sie nicht mehr zum Bogen, auch nicht mehr für sich. "Für sich zu spielen macht keinen Spaß", erklärt sie, "und um anständig zu spielen, muss man üben." Jetzt habe sie ein anderes Leben.
Anita Lasker-Wallfisch geht nun, vor allem in Deutschland, in Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen. "Gibt nicht mehr so viele von uns", sagt sie schnoddrig. "Es ist absolut eine Pflicht, einen direkten Kontakt herzustellen zwischen dem damaligen Leben und den jungen Menschen. Sonst geht alles in die Geschichtsbücher hinein - und wird umgeblättert: Napoleon … Holocaust … Wir sind die Stimmen der Menschen, die man umgebracht hat."
Und jeden Samstag trifft sich Anita Lasker-Wallfisch auch noch mit Alice Herz-Sommer. Die Deutsch-Tschechin, geboren in Prag, ist 107 Jahre alt, war in Theresienstadt und gilt als älteste Holocaust-Überlebende der Welt. Auch Alice Herz-Sommer war eine Musikerin im KZ, auch ihr, so sagt sie, habe vor allem die Musik geholfen zu überleben. "Ein Phänomen!", jubelt Anita Lasker-Wallfisch in ihrem Garten, "Sie hat mit Kafka gespielt!" Die beiden alten Damen spielen samstags immer Scrabble. Auf Englisch. Gezählt wird nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte