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Archiv-Artikel

Poor Man’s James Bond

Sie nennen sich Urmel oder Fiffi und leben für eine „unkontrollierte Widerstandspresse“. Verdeckt produzieren sie die politische Zeitschrift „radikal“. Der Staat wittert eine „kriminelle Vereinigung“, ja sogar RAF-Mitglieder, und setzt im Sommer 1993 zur „Aktion Wasserschlag“ an. Ein Überlebender berichtet

ZWEIFEL AM STAAT

Am 27. Juni 1993 wird das RAF-Mitglied Wolfgang Grams auf dem Bahnhof von Bad Kleinen während eines GSG-9-Einsatzes durch einen Pistolenschuss getötet. Grams tötet zuvor einen GSG-9-Beamten. Seine Begleiterin Birgit Hogefeld wird festgenommen. Nach den offiziellen Ermittlungsergebnissen hat Grams sich selbst erschossen. Vermutungen gehen dahin, dass er von den Beamten erschossen wurde. Definitive Beweise gibt es nicht. Grams und Hogefeld gehören zur sogenannten dritten Generation der linksextremistischen Organisation. In den nächsten Monaten schimmern noch einmal die alten Frontstellungen des Deutschen Herbstes durch. Die RAF hatte im April 1992 ihren Verzicht auf Attentate gegen „führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ erklärt. Und sich daran gehalten. War der Staat doch sinister? taz-Artikel fragen: „Wie starb Grams?“ – „Grams durch eigene Waffe getötet – aber von wem?“ – „Wurde Grams exekutiert?“ Die RAF löst sich 1998 auf. Birgit Hogefeld und Christian Klar sind die letzten Inhaftierten der RAF.

Die Polizisten waren recht optimistisch, als sie im Sommer 1993 durchs Unterholz einer Kleingartenanlage in der Eifel krochen. Akribisch bestückten sie ein Wochenendhaus nahe der Gemeinde Baar-Wanderath mit elektronischen Wanzen. Man erwartete fette Beute: Mitglieder der RAF planten, sich in dem Häuschen zu treffen. So zumindest rechtfertigte der Bundesgerichtshof den bis zum Januar 1994 dauernden Lauschangriff. Von den Stadtguerilleros ließ sich allerdings niemand blicken. Gekommen waren dafür sieben Menschen, um eine Ausgabe der verdeckt organisierten Zeitschrift radikal zu planen.

Mit dem Zufallstreffer begann einer der umfangreichsten Angriffe der deutschen Nachkriegszeit auf linke Medien. Was der Bundesanwaltschaft (BAW) nicht passte: Die Zeitung veröffentlichte neben Berichten über Antifa-Demonstrationen und Abhandlungen über die deutsche Geschichte auch Erklärungen militanter Gruppen und Anleitungen etwa zum Bau eines „Poor Man’s James Bond“, wie die Autoren ein Werkzeug zum Knacken von Schlössern nannten. Kurzum: die radikal habe „durchweg strafbaren Inhalt“, meinten die Bundesanwälte. Deshalb sei die Zeitschrift als „kriminelle Vereinigung“ zu verfolgen.

Das klang gefährlich. Viel gefährlicher, als man sich die Männer und Frauen vorstellen mag, die sich in geheimen Papieren Urmel, Fiffi oder Ede nannten und ihr halbes Leben damit verbrachten, auf zähen Sitzungen zwischen Kiel, Castrop-Rauxel und dem Bodensee über Seitenzahlen zu feilschen, Schwerpunktthemen festzulegen oder Titelbilder auszuwählen.

Tag und Nacht klebten sie mühsam Texte auf weißes Layout-Papier oder reisten Tausende von Kilometern durch Deutschland, um alle drei bis vier Monate rund 5.000 Exemplare an die Leserin und den Leser zu bringen. Ein Aufwand, der heute, in Zeiten der beinahe grenzenlosen digitalen Kommunikation, absurd erscheint. Damals aber war für die radikal klar: „Wir brauchen eine unkontrollierte Widerstandspresse.“

Doch in ihrem Eifer stand die BAW ihren Klienten in nichts nach. Nach dem Zufallstreffer in der Eifel erklärten die Bundesanwälte das Thema zur Chefsache. Fast zwei Jahre lang ließ man mutmaßliche Mitarbeiter des linksradikalen Blättchens observieren. Hunderte von Disketten wurden aufwändig entschlüsselt, unzählige Texte auf Schreibstil sowie Kriminalitätstauglichkeit überprüft. Am 13. Juni 1995 folgte der Großeinsatz, die „Aktion Wasserschlag“: Über 100 Wohnungen, Läden und linke Zentren wurden durchsucht. Sechs Personen wurden verhaftet, gegen weitere 115 wurde ermittelt.

Auch ich geriet in den Verdacht, der inkriminierten Vereinigung anzugehören. Schließlich hätte ich in vielen Medien über das radikal-Verfahren geschrieben. Berichte über meine Reisetätigkeiten seit Ende der Siebzigerjahre, „einschlägige“ Kontakte und ähnliche Indizien sollten den Verdacht untermauern. Kurzerhand beschlagnahmten Polizisten meinen Computer sowie Recherchematerial in den Räumen einer kleinen Berliner Tageszeitung, in der ich damals arbeitete. Das Journalisten zustehende Zeugnisverweigerungsrecht hebelten die Fahnder mit ihrer Beschlagnahme kurzerhand aus. Der „gravierende Tatvorwurf“ rechtfertige dieses Vorgehen, meinte die BAW.

Ohnehin hielten sich die obersten Strafverfolger nur bedingt an gesetzliche Vorgaben. Dass am Anfang der „Aktion Wasserschlag“ ein Großer Lauschangriff stand, während der Bundestag noch heftig über die Unverletzlichkeit der Wohnung stritt, passt ebenso in diese Verfolgungsgeschichte wie das Aushebeln von Journalistenrechten.

Ein Blick zurück: Bereits im Frühjahr 1977, kaum war die erste radikal-Ausgabe erschienen, klagte das Berliner Amtsgericht gegen die „sozialistische Zeitung für Westberlin“. Diese hatte einen Artikel veröffentlicht, in dem der RAF-Anschlag auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback teilweise affirmativ diskutiert wurde.

Regelmäßig ging die BAW damals gegen Zeitschriften, Buchläden und Intellektuelle vor, die eine öffentliche Debatte über bewaffnete Politik unterstützten. Es war die Zeit des Deutschen Herbstes, aus dessen Erfahrungen undogmatische Linke das Projekt taz als „tägliche Alternative zu Nachrichtensperre und Öffentlichkeitsverlust“ ins Leben riefen. Auch einige aus der radikal-Redaktion gingen zur taz, andere verschrieben sich in der Monatszeitung dem Häuserkampf, der „Bewegung 2. Juni“ und anderen militanten Linken. Aus der „sozialistischen“ war die „Zeitung für unkontrollierte Bewegungen“ geworden. Und damit trat erneut die BAW auf den Plan.

Im Winter 1982 stürmte die Polizei die Redaktionsräume in Kreuzberg, später wurden Michael Klöckner und Benny Härlin als presserechtlich Verantwortliche zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf: Werbung für eine terroristische Vereinigung. Doch durch den öffentlichen Druck mussten die beiden freigelassen werden.

1984 gingen sie für die Grünen ins Europaparlament und genossen parlamentarische Immunität. Jahre später wurde das Urteil aufgehoben. Die nächste radikal-Generation wollte sich dieses Risiko ersparen und begann, das Blatt verdeckt herauszugeben: Die Kontaktadresse wurde ins Ausland verlagert, Redaktionssitzungen fanden im Verborgenen statt. Die radikal erschien nur noch unregelmäßig, ihr Leserkreis reduzierte sich auf die autonome Szene. Trotzdem schlug die BAW erneut zu. 1986 und 1987 folgten weitere Durchsuchungen, gegen 192 mutmaßliche Unterstützer wurden Verfahren eingeleitet. Wieder wurde nur eine Handvoll Beschuldigter zu kleinen Bewährungsstrafen verurteilt.

Wie viele Schnüfflerherzen, Computerfreaks und Möchtegern-Schimanskis die BAW in diesen 20 Jahren beschäftigt hat, um der radikalen Umtriebe Herr zu werden, bleibt wohl das Geheimnis der Karlsruher Behörde. Das strafrechtliche Ergebnis fällt im Verhältnis dazu jedenfalls gering aus. Auch die „Aktion Wasserschlag“ von 1995 entpuppte sich als Schlag ins Wasser: Das für die Eifel zuständige Koblenzer Landgericht machte den Bundesanwälten einen Strich durch die Rechnung. Eine Zeitung als „kriminelle Vereinigung“? Das war den Richtern dann doch zu viel. Sie lehnten es ab, Anklage zu erheben. Auch mein Verfahren wurde eingestellt. Telefonüberwachung und andere Ermittlungen konnten die Vorwürfe nicht bestätigen, musste die BAW eingestehen.

Vielleicht hätten sich die Bundesanwälte zu Herzen nehmen sollen, worauf die radikal selbst hinwies: „Zur bescheidenen Erinnerung: Wir machen und verteilen eine Zeitung.“

Dass diese Zeitung inzwischen praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, ist dem Zeitgeist und dem Internet geschuldet. Der Verfolgungswahn der obersten deutschen Strafverfolger hatte die radikal-Aktivisten jedenfalls nie aufgehalten.

WOLF-DIETER VOGEL, 49, ist Hörfunk- und Printjournalist in Berlin. Zuvor sechs Jahre Mexiko-Korrespondent, für die taz und im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für Basisradios und andere unabhängige Radioprojekte.