: Polnisches Dilemma
■ Eine Koalition verlangt Mitverantwortung von Solidarnosc
Der sich abzeichnende Erdrutschsieg von Solidarnosc verführt leicht dazu, einige wesentliche Begleitumstände und Folgen der polnischen Wahlen zu übersehen. Daß die Regierungskoalition eine kräftige Abfuhr erhalten hat, läßt sich nicht leugnen. Trotz Lech Walesas Aufruf, die Landesliste zu schonen, betraten viele Wähler die Wahlkabinen mit extragroßen Filzstiften, um auf diese Weise deutlich zu machen, was sie von den Errungenschaften aus vierzig Jahren Volksdemokratie halten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte, die Tatsache nämlich, daß die erdrückende Mehrheit der Polen oft ohne Ansehen der Kandidaten für Walesas Mannschaft gestimmt hat, belastet diese mit einer Verantwortung, der sie nicht gerecht werden kann: noch in diesem Jahr steht die am runden Tisch vereinbarte Preisfreigabe des Lebensmittelmarktes an, die zu drastischen Preiserhöhungen führen wird. Angesichts der Inflation und des Budgetdefizits ist der Spielraum für soziale Ausgleichszahlungen gleich null.
Die wohl unvermeidliche Senkung des Lebensstandards in breiten Schichten und die damit verbundene weitere Polarisierung der Gesellschaft in Opfer und Nutznießer der Wirtschaftsreform wird in der Bevölkerung schnell zur Ernüchterung führen. Daß die Regierung diese Belastung nicht allein tragen will, ist verständlich und erklärt die Koalitionsangebote an die Opposition. Angesichts des Erdrutschsieges wird es schwer werden für Solidarnosc, Mitverantwortung abzulehnen und das Regieren denen zu überlassen, die nun erwiesenermaßen das Volk nicht repräsentieren. Doch nimmt die Opposition an, wird sie zum Mitverantwortlichen für die sozialen Belastungen. Dann kann sie nicht mehr wie bisher die Unzufriedenheit ventilieren. Die unerwartet geringe Wahlbeteiligung von etwas über 60 Prozent weist schon jetzt in diese Richtung. Die Gefahr, daß die so von Regierung und Solidarnosc Enttäuschten zu den Populisten auf beiden Seiten abwandern, ist dann groß.
Mit dem Wahlsieg steckt Solidarnosc also in einem Dilemma: Regierungsbeteiligung heißt Verantwortung, ohne jedoch in entscheidenden Fragen freie Hand zu haben, schon aus außenpolitischen Rücksichten. Doch eine Koalition, der das Volk gerade die rote Karte gezeigt hat, weiterwursteln zu lassen, scheint auch nicht möglich. Und viel Zeit, sich die Entscheidung zu überlegen, haben weder Regierung noch Opposition.
Klaus Bachmann
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