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Archiv-Artikel

DAUMENKINO Poll

Satte Farben, weiter Himmel und viel zu viele Geigen: Chris Kraus entwirft Postkartenatmosphäre in „Poll“

Ein junges Mädchen, Oda, reist im Sommer 1914 an die baltische Ostseeküste. Die Mutter ist gestorben, jetzt soll sie beim Vater (Edgar Selge) leben, einem skurrilen Hirnforscher. Das Ganze spielt in einem auf Stelzen in die Ostsee gebauten Gutshaus: edel und kaputt. Man sieht diesem Haus an, dass diese russisch-baltisch-deutsche Adelswelt dem Untergang geweiht ist. Tod in Poll. Männer philosophieren in weißen Leinenanzügen und blicken aufs Meer, man tauscht schmachtende oder böse Blicke. In den oberen Etagen macht man Hausmusik, unten werden Leichen von Anarchisten auseinandergesägt. Satte Farben, weiter Himmel, zarte Gefühle, unterdrückte Leidenschaften, und viel zu viele Geigen. „Poll“ versammelt Postkartenbilder, schön, erlesen und nie originell. Hübsch spritzt die Gischt, wenn Reiterstaffeln am Strand entlang galoppieren.

Die Bilder sind ansehnlich, die Themen bedeutend: erste Liebe, Gewalt, Geschichte, Erwachsenwerden. Die neue Gattin des Vaters hat eine Affäre mit dem Verwalter. Draußen jagen Militärs Anarchisten, und der Zufall will es, dass Oda (Paula Beer) einen herzensguten verwundeten Anarchisten auf dem Dachboden versteckt und pflegt. Es entspinnt sich eine vorsichtige Liebelei, die, das ahnt man nach fünf Minuten, böse enden wird.

Regisseur Chris Kraus, der in „Vier Minuten“ sein Talent für rasantes, gefühlsdichtes Kino bewiesen hat, versteht sich auf Schauspielerführung: Edgar Selge spielt, fern von TV-Routine, intensiv den abgründigen Eigenbrötler, Paula Beer als „Oda“ ist genau so, wie sie sein soll: sehr jung, sehr schön, sehr empfindsam.

Doch in „Poll“ misslingt vollständig, was Michael Haneke mit „Das weiße Band“ glückte: die Vorkriegsgesellschaft atmosphärisch dicht, aber nicht thesenhaft zu skizzieren. In „Poll“ hingegen explodiert am Ende das Sägewerk. Achtung: Symbol. Die Mobilmachung beginnt, die alte, morsche Feudalwelt geht in Rauch auf. Wenn die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges eintrifft, wird in „Poll“ das Wetter schlecht. Regisseure wie Chris Kraus, die doch vom Jetzt erzählen können, sollten besser keine Kostümfilme machen. STEFAN REINECKE

„Poll“. Regie: Chris Kraus. Mit Paula Beer, Edgar Selge u. a. Deutschland/Österreich/Estland 2010, 129 Min.