Polizei untersucht Online-Suizid: Hilflos im Chatroom
Der 19jährige Abraham B. hat sich in Florida vor laufender Webcam umgebracht, 180 Menschen haben zugeschaut. Jetzt untersuchen die Behörden, ob unterlassene Hilfeleistung vorliegt.
Es muss eine grauenvolle Stimmung gewesen sein: Abraham B., ein 19jähriger Community College-Student aus einer 150.000-Einwohner-Stadt im amerikanischen Bundesstaat Florida, hat sich in der vergangenen Woche vor laufender Webcam mit einem Medikamentencocktail umgebracht. Über 100 Menschen sollen auf dem "Lifecasting"-Portal Justin.tv zugesehen haben, auf dem es jedem möglich ist, sein komplettes Leben per Livevideo ins Netz zu stellen. Eine Internet-Verbindung und eine Kamera reichen aus. B., der laut seinen Eltern an einer manisch-depressiven Persönlichkeitsstörung litt und sich in Behandlung befand, kündigte sein Vorhaben in einem Bodybuilder-Forum an, listete dort die Mittel, die er einnehmen wollte und setzte einen von einem anderen Angebot kopierten Abschiedsbrief darunter. Ein Link führte zu seinem "Lifestream" auf Justin.tv.
Während der Tat sollen sich laut einem Screenshot bis zu 180 Personen in dem zum Video gehörenden Chatraum aufgehalten haben. Den Selbstmord gestoppt hat offenbar niemand von ihnen - die Polizei untersucht zurzeit, ob es Anzeichen für unterlassene Hilfeleistung gibt oder die Betreiber des Videoangebotes in die Pflicht genommen werden könnten. Justin.tv teilte in einem Statement mit, man sei nach diesem Ereignis davon überzeugt, dass alle Mitglieder der Online-Gemeinschaft künftig "noch wachsamer" sein würden, um ihre Nutzerkollegen vor solchen Vorfällen zu schützen.
Eine Regulierung lehnt der Anbieter allerdings ab. B.s Vater sieht das ganz anders: "Als menschliches Wesen kann man sich doch nicht zurücklehnen, wenn man jemanden sieht, der in Schwierigkeiten steckt." Ein Nutzer aus Indien soll immerhin versucht haben, von seinem Telefon aus tausende Kilometer entfernt die Polizei in B.s Nachbarschaft zu erreichen, was allerdings scheiterte. Justin.tv hatte schon zuvor Ärger mit Jugendschützern gehabt, weil in mehreren Fällen sexuelle Handlungen live über den Dienst übertragen worden waren.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die US-Behörden mit einem Selbstmord-Fall in Web 2.0-Diensten beschäftigen müssen. Derzeit verhandelt eine Jury in Los Angeles über Lori D., eine Mutter aus Missouri, die auf dem Social Networking-Portal MySpace ein Mädchen mit so genanntem "Cyber-Bullying" vor zwei Jahren in den Tod getrieben haben soll. Sie hatte sich online als Junge ausgegeben, der sich angeblich für die 13jährige Megan M., einen Teenager aus der Nachbarschaft und die ehemals beste Freundin ihrer Tochter, interessierte. M. wurde der Staatsanwaltschaft zufolge von der Frau und zwei weiteren Personen "angefüttert" und dann schließlich online intensiv gehänselt. Die Aktion soll vier Wochen gedauert haben, bevor sich das Mädchen schließlich aus Verzweiflung umbrachte. Die Verteidigung argumentiert, es gehe in diesem Fall nicht um Mord, sondern die schlichte Frage, ob D. mit ihrer Aktion die Nutzungsbedingungen von MySpace missbraucht habe. Der Betreiber der Seite hält sich mit Kommentaren bislang zurück, gab nur an, man werde bestimmte Nutzeraktivitäten künftig schärfer unter die Lupe nehmen, um ähnliche Fälle künftig zu verhindern.
Tatsächlich ist die Frage, ob das Internet und seine neuen Dienste bei solchen Dramen wirklich die Hauptschuld trifft, nicht leicht zu beantworten - schließlich sind die eigentlichen Täter immer Menschen, die sich des Mediums bedienen. Aber natürlich ist es für Mobbing-Täter leichter, im Netz anonym vorzugehen. So soll es auch beim Selbstmord B.s in Florida einige Chatter mit Pseudonym gegeben haben, die ihn dazu anstachelten, sein Leben endlich zu beenden. Unklar ist allerdings, ob sie es tatsächlich ernst mit diesen harschen Worten meinten: B. soll schon früher in einem Forum mehrmals Selbstmorddrohungen abgegeben haben, nur um sich dann später hierfür zu entschuldigen. Auch das könnte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass ihm die Nutzer, die ihn über seine Webcam bei dem schrecklichen Vorfall beobachteten, die Tat nicht abnahmen und deshalb auch nicht die Polizei riefen, um einzugreifen.
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