: Politisches privat
MÜHSAM-TAGEBÜCHER Im Verbrecher Verlag und im Internet erscheinen Erich Mühsams Tagebücher. Morgen wird die Edition vorgestellt und aus dem ersten Band gelesen
VON ROBERT MATTHIES
„Über den Wert von Tagebüchern entscheidet nicht das Talent des Verfassers – denn die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindert doch die Entstehung eines literarischen Meisterwerks –, sondern der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden“, schrieb Erich Mühsam am 3. Oktober 1910 – in sein Tagebuch. Und: „Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen.“
Chris Hirte, schon in den 1980ern Mitherausgeber einer Erich-Mühsam-Werkausgabe und Mühsam-Biograf, hat sich vor zwei Jahren gemeinsam mit Conrad Piens dieser ebenso arbeitsintensiven wie lohnenswerten Aufgabe nun endlich erfolgreich angenommen. Vor kurzem ist der erste Band der 15 Jahre und rund 7.000 Heft-Seiten umfassenden Tagebücher des filouhaften Kaffeehausliteraten, Kabarettisten und Schüttelreimers, Brettl-Stars und Schwabinger Bohemiens, politischen Publizisten und schließlich von den Nazis ermordeten anarchistischen Aktivisten mit dessen Aufzeichnungen aus den Jahren 1910 und 1911 im Berliner Verbrecher-Verlag erschienen (352 Seiten, Leinenband mit Lesebändchen, 28 Euro). Im Herbst 2018 soll der letzte Band mit dem 41. und 42. Heft veröffentlicht werden.
Zugleich sind Mühsams Tagebücher unter www.muehsam-tagebuch.de auch im Internet zu lesen – nebst Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namenregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktion, Links zu anderen Texten und Tagebucheinträgen. Um eine historisch-kritische Ausgabe zu erarbeiten. Und den Zeitchronisten wieder zum Leben zu erwecken: „Der Verfasser und Held, vielfältig verlinkt mit dem Kosmos des Online-Wissens, wird zum Akteur einer buntbelebten Geschichtsbühne; aus seinen Leidenschaften und Illusionen wird eine Kraft, die auf höchst eigenwillige Weise ins Zeitgeschehen eingreift“, sind sich die heldenhaften Herausgeber sicher.
Morgen Abend wird die Edition auch in Hamburg vorgestellt. Philipp Meier von Rouden liest in der Reihe „Die Untüchtigen“ im Golem aus dem ersten Band – vor allem Einträge aus der Münchner Boheme-Zeit –, Chris Hirte steuert Anektdoten, Erläuterungen und Kommentare bei.
■ So, 18. 12., 20 Uhr, Golem, Große Elbstraße 14