■ Politiker haben in der Presse ein neues Feindbild gefunden: Ist der Ruf erst ruiniert ...
Auf den ersten Blick erschien es zu dummdreist, um wahr zu sein, doch gestern erhärtete sich, was der Spiegel berichtet: Helmut Kohl hat offenbar den Spitzen der etablierten Parteien in einer Art hochvertraulichem Non-Gespräch den Vorschlag unterbreitet, die Pressegesetze zu verschärfen, damit Politikern unangenehme Journalisten zum Schweigen gebracht werden könnten.
Um diese parteiübergeifende Initiative angemessen zu würdigen, sollten wir wenigstens kurz die Zusammensetzung dieser zehnköpfigen Herrenrunde auf uns einwirken lassen: Es finden sich solche Lichtgestalten darunter wie der wg. Steuerhinterziehung zu 16 Monaten auf Bewährung vorbestrafte Graf Lambsdorff; der zu Recht der Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuß bezichtigte Engholm; zwei CSU-Vertreter, die bis zum bitteren Ende ihren Amigo Streibl im Amt zu halten versuchen, und last but not least der Blackout-Bundeskanzler.
Diese Runde, die aus guten Gründen ständiges Objekt kritischer Berichterstattung und investigativen Journalismus ist, glaubte offenbar den miserablen Ruf der politischen Klasse durch das Verteilen von Maulkörben bessern zu können. Selbstredend ist das genaue Gegenteil der Fall.
Die politische Klasse hat seit der Vereinigung die Fähigkeit zu konzeptionellem Denken und strategischem Handeln weitgehend verloren, immer wieder ertappte die Presse zudem einzelne bei Versuchen, sich zu bereichern. Der Ansehensverlust der Berufspolitiker ist deshalb selbstverschuldet. Wenn die Protagonisten jetzt in die Rolle der beleidigten Leberwurst schlüpfen und den katzbuckelnden öffentlich- rechtlichen Stichwortgeber zum Leitbild des Journalisten erheben wollen, wird dem Publikum zu viel zugemutet. Dieses immer häufiger zur Schau getragene Selbstmitleid der Politiker ist grundlos. Wer sich freiwillig – wie es die Politikerkaste bis zum Erbrechen des Publikums tut – in die Öffentlichkeit drängt, kann nicht ewige Hofberichterstattung im Stile des ansonsten unermüdlich dämonisierten realsozialistischen „Unrechtsregimes“ verlangen.
Noch absurder an Kohls Initiative ist folgendes: Wenn Zeitungen aus dem Privatleben von Politikern berichten (was in der Tat eine Unsitte ist), sind es gerade Blätter aus den dem Kanzler nahestehenden Verlagshäusern Burda und Springer, die sich auf diesem Gebiet hervortun. Der Spiegel hingegen, der, neben der Satirezeitschrift Titanic, zum bestgehaßten Blatt avanciert ist, übt seit jeher Selbstbeschränkung auf die beruflichen und politischen Verfehlungen.
Statt der von Kohl propagierten Maulkorb-Initiative sollte die Bundesregierung lieber ihre Medienpolitik einer Revision unterziehen. Sie hat nichts dafür getan, die im Kapitalismus zwangsläufige Presse- und Medienkonzentration und den mit ihr einhergehenden Schwund der Meinungsvielfalt wenigstens zu bremsen. Sie hat bislang alles getan, um mit der Privatisierung der elektronischen Medien das Niveau zu senken. Das Ausmaß, in welchem in privaten TV-Kanälen mittlerweile die Menschenwürde, aber auch die Persönlichkeitsrechte von einfachen Bürgerinnen und Bürgern mißachtet werden, dagegen sind die kritischen Berichte über die sensiblen Politikerseelchen vollkommen harmlos. Zulässig und notwendig sind sie ohnehin. Michael Sontheimer
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