Politik: Störgefühle
Friedrich Merz und sein Gefolge wollen im Vorübergehen erkennen, wer keinen Aufenthaltsstatus hat, nicht arbeitet und sich nicht an Regeln hält. Davon wird kein Stadtbild besser. Eine Gruppe SPD-Abgeordneter präsentiert nun konkrete Vorschläge und fordert mehr Geld für Kommunen.
Von Johanna Henkel-Waidhofer
Während Jens Spahn, Unionsfraktionschef im Bundestag, in der ziemlich turbulenten „Stadtbild“-Debatte um Aufenthaltsqualität, Angstgefühle und Abschiebungen einen „linken Empörungszirkus“ erkennt, machen zehn SPD-Bundestagsabgeordnete Nägel mit Köpfen. Sie verlangen einen „Stadt der Zukunft“-Gipfel im Kanzleramt, „präzise Analyse statt Ressentiments“, und sie haben einen Acht-Punkte-Plan vorgelegt. Der sieht unter anderem zusätzliche Drogenkonsumräume vor, mobile Gesundheitsdienste, intensive Sozialarbeit, mehr Grünflächen, Wasserstellen, Sitzgelegenheiten, Märkte, Kultur- und Sportangebote im öffentlichen Raum, klare Regeln gegen Vermüllung, Pfandsysteme in der Außengastronomie. Und mehr Geld, weil die Kommunen für ihre Projekte eine gesicherte Finanzierung brauchen.
Baden-Württembergs CDU-Ministerinnen Nicole Hoffmeister-Kraut (Wirtschaft) und Nicole Razavi (Wohnen) könnten solche Ideen eigentlich sogleich offensiv verknüpfen mit den eigenen. Vor einem Jahr haben sie untersuchen lassen, was wichtig ist für die Attraktivität von multifunktionalen Innenstädten, welchen Einfluss Müll und Beleuchtung oder die „gezielte Bespielung“ von Aufenthaltsräumen auf die Atmosphäre haben, und wie sogenannte Angsträume abgebaut werden können. „Die Innenstadt ist ein Gemeinschaftsprojekt und ein Raum für alle, in welchem dem Faktor Mensch eine entscheidende Rolle zukommt“, schreibt das Autor:innenteam, dem Kommunalfachleute und Stadtplaner:innen angehören. Um soziale Vielfalt herbeizuführen, müsse ein verträgliches Neben- und Miteinander unterschiedlicher Ethnien, Kulturen und Einkommensschichten sichergestellt werden – und die Schaffung von Sicherheit für alle.
Wer in exklusiven City-Arealen Störgefühle entwickelt, weil sich andere oder neue gesellschaftliche Gruppen ihrer bemächtigen, ist ohnehin auf dem falschen Dampfer. Denn: „Migration wird auch als Erfolgsfaktor gewertet, da in Teilen nur durch neue Bevölkerungsgruppen das ‚Leben‘ in Innenstädten aufrechterhalten werden kann, ohne diese wäre ein umfassender Nutzungsmix nicht mehr vorzuhalten“, heißt es in dem Gutachten weiter. Die Schnittmengen zu dem von der Mannheimer Bundestagsabgeordneten Isabel Cademartori mitverfassten SPD-Papier sind unübersehbar – etwa wenn „vielfältige Nutzungen“ den Vorrang gegenüber „eintönigen ‚Konsummeilen‘“ gegeben wird. Kommunen sollten Leerstände leichter nutzen dürfen und Gebäude für soziale, kulturelle oder sportliche Zwecke öffnen können. Hoffmeister-Kraut will die unbestritten vorhandene Brücke jedoch nicht nutzen, um gemeinsam vorzugehen. „Das Wirtschaftsministerium kommentiert keine parteipolitischen Initiativen“, sagt eine Sprecherin auf Anfrage.
Viele Kommunen sind knapp bei Kasse
Viele Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg arbeiten ohnehin bereits eng mit Polizei, Sicherheitsdiensten und Geschäftsinhaber:innen vor Ort zusammen. Allerdings ist oft das Geld knapp. Obwohl das Land finanziell noch immer vergleichsweise gut dasteht, sind zwischen Main und Bodensee nurmehr 97 der 1.101 Kommunen schuldenfrei. Die wesentlichen Gründe sind altbekannt: „Die Kommunen tragen ein großes Spektrum sozialer Aufgaben, die überwiegend bundesgesetzlich geregelt, aber oft nicht ausreichend vom Bund gegenfinanziert sind“, analysiert die Bertelsmann-Stiftung. Es brauche für Baden-Württemberg eine höhere Kostenbeteiligung des Bundes, weil die Sozialausgaben binnen vier Jahren um 40 Prozent auf fast zehn Milliarden Euro anwuchsen.
Auf einem „Stadt der Zukunft“-Gipfel könnte also viel besprochen werden. Immerhin leben 64 Millionen Menschen in den bundesweit 2.000 Städten, die es wert wären, sich Gedanken darüber zu machen, ob statt übers diffuse „Stadtbild“ über „öffentliche Räume“ geredet werden müsste. Oder darüber, wie sich Furcht auch anlasslos verselbstständigen kann. Wenn es zu keinem Gipfel beim Kanzler kommt, könnte der Koalitionsausschuss oder eine Arbeitsgruppe aus CDU, CSU und SPD sich überhaupt erst einmal auf ein gemeinsames Verständnis von „Stadtbild“ verständigen. „Es braucht Klarheit in dieser Debatte“, schreiben die MdBs.
Geht es aber nach Steffen Bilger, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion, braucht es genau das nicht. Kaum war das SPD-Papier öffentlich, schlug Bilger die ausgestreckte Hand des Koalitionspartners aus. „Der Bundeskanzler hat die Problemlage klar benannt, eine weitere Erörterung ist nicht nötig“, formulierte Bilger „heute-show“-reif. Dabei ließ er selbst erkennen, wie groß der Gesprächsbedarf ist. Der Bezirksvorsitzende der CDU-Nordwürttemberg kommt in einem SWR-Podcast auf den Ludwigsburger Solitudeplatz zu sprechen. Der wurde neulich zum Gegenstand eines Schreibens des über die Stadt hinaus bekannten Immobilienunternehmers Jürgen Pflugfelder an den parteilosen Oberbürgermeister Matthias Knecht, in dem er sich über die „trinkenden, rauchenden, rauschgiftkonsumierenden und pöbelnden Männer“ ausließ. Der Rathauschef hat sich der Problematik angenommen, die evangelische Kirche ist eingebunden und ein „Garten der Religionen“ in Planung, Videoüberwachung wird geprüft.
Bilger schürt lieber weiter Ängste
Darüber hätte Bilger berichten können als positives Beispiel für die Reaktionen auf Missstände. Stattdessen schürt er lieber weiter Ängste, behauptet, dass sich „keiner mehr über den Platz traut, gerade in den Abendstunden“, und schwadroniert über Störgefühle beim Anblick vollverschleierter Frauen. Er frage sich, teilt er mit, „ob, wer vollverschleiert durch sein Leben geht, an der richtigen Stelle ist in unserem Land“. Natürlich weiß Bilger, dass die größte Niqab-Dichte der Republik auf Münchner Nobelmeilen wie der Maximilianstraße anzutreffen ist. Dass die Kundinnen aus reichen Erdölstaaten das dortige Stadtbild prägen, lässt aber infolge ihrer Finanzkraft Störgefühle gar nicht erst aufkommen.
Die Behauptung von Merz und seinen Unterstützer:innen, dass bereits Klarheit bestehe, entkräftet ausgerechnet jene Umfrage, auf die sie sich berufen. „Der Bundeskanzler spricht aus, was die große Mehrheit der Deutschen denkt“, tönte Jens Spahn. Das ZDF-Politbarometer hatte in der Tat ermittelt, dass 63 Prozent der von der Forschungsgruppe Wahlen Befragten der „Aussage zum Stadtbild“ beipflichten. Allerdings musste die Redaktion im Kleingedruckten zurückrudern. „Wir hätten das deutlicher herausarbeiten sollen“, räumt Moderator Stefan Leifert ein – die Fragestellung habe sich gar nicht auf die vage erste Äußerung, sondern auf die Nachbesserung bezogen.
Merkel mahnt maßvollen Ton an
Sähen des Kanzlers versammelte Advokat:innen genauer hin, hätte sich selbst ihnen eine Widersprüchlichkeit sofort erschließen müssen. Denn zugleich gaben 66 Prozent der Befragten an, sich „an öffentlichen Orten und Plätzen in der Regel sicher zu fühlen“. Was daran erinnert, dass Mehrheitsmeinungen für die Union keineswegs immer gelten – Stichwort Paragraf 218 und dessen Tilgung aus dem Strafgesetzbuch, die von 68 Prozent der Deutschen befürwortet wird. Wie Frauen mit Kopftüchern nicht in Spahns Stadt- oder Berlinbild passen, passt diese Umfrage nicht ins Weltbild seiner Union. Und schon fällt sie unter den Tisch. Die gegenwärtige Debatte dagegen ist noch lange nicht zu Ende. Allein die Protest-Petition, die vor einer Woche gestartet wurde mit dem Verweis auf Merz‘ Empfehlung, doch in Sachen Störgefühle die eigene Tochter zu fragen, haben inzwischen eine Viertelmillionen Menschen unterschrieben.
Und die Bundeskanzlerin a.D. konnte es ebenfalls nicht lassen. Auf einer Lesung in Bonn griff Angela Merkel einfach zu einem passenden Zitat aus ihrem dicken Buch: „Die übergroße Mehrheit der Menschen hat ein untrügliches Gespür dafür, ob Politiker aus einem Kalkül handeln, ob sie sich sogar von der AfD gleichsam am Nasenring durch die Manege führen lassen, oder ob sie handeln, weil sie aufrichtig daran interessiert sind, Probleme zu lösen.“ Sie empfahl, „in der Sache redlich und im Ton maßvoll“ zu agieren. Die Adressat:innen dieses Appells musste sie namentlich nicht nennen. Das begeisterte Auditorium wusste auch so Bescheid.
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