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PolitikPopulistische Blendgranaten

Seit Anfang der Neunzigerjahre üben sich Konservative in der Abwehr von Geflüchteten. Flucht ist in der deutschen Debatte längst zu „irregulärer Migration“ geworden. Die Forderung, den „unkontrollierten Zustrom“ zu begrenzen, zeugt dabei vom weitreichenden Realitätsverlust in der Stimmungsdemokratie.

Viele Politiker:innen sprechen sich gegen die „irreguläre“ Migration aus – dabei setzen EU-Recht und Grundgesetz klare Grenzen. Foto: Jens Volle

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Zwei Begriffe illustrieren die verbale Verrohung, die sich in den vergangenen Jahren schleichend vollzogen hat: „irregulär“ und „illegal“. „Sprache macht Politik“, schreibt der Landesbeirat für Integration Baden-Württemberg zur migrationspolitischen Debatte. „Wenn wir über gemeinsame Werte in einer Sprache sprechen, die sich selbst von diesen Werten abwendet, drohen Spaltung und Polarisierung anstelle von demokratischem Ausgleich.“

Die beiden Worte tauchen im Zusammenhang mit Migration nach Deutschland erstmals im Sommer 2017 in einem AfD-Papier auf, das nicht nur die Auslagerung von Asylverfahren nach Nordafrika und die komplette Schließung der Mittelmeer-Route verlangt, sondern auch einen „klaren Schwenk in der Kommunikation“. Der ist offenbar gelungen. „Irregulär“ und „illegal“ seien Lieblingsbegriffe deutscher Politiker:innen, „wenn es darum geht, Geflüchtete zu diskreditieren und Abschottungsphantasien durchzusetzen“, kritisierte Amnesty International Ende 2023.

Die Öffentlichkeit ist schlecht informiert

Da hatte Baden-Württembergs CDU bereits ihr Eckpunkte-Papier zur „Begrenzung illegaler Migration“ vorgelegt und die beiden Vokabeln endgültig in der demokratischen Mitte hoffähig gemacht. „Wir brauchen eine 180-Grad-Wende in der deutschen Migrationspolitik. Das ist keine Frage von Moral, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit“, verkündet in Stuttgart Manuel Hagel, Chef der baden-württembergischen CDU-Landtagsfraktion. „Deshalb müssen wir jetzt Denkmuster und alte politische Grabenkämpfe überwinden und sachlich die dringend notwendigen konkreten Schritte angehen.“

Von Sachlichkeit jedoch kann keine Rede sein. Vielmehr ist die Rhetorik der Rechtsaußen-Opposition zur neuen Normalität beim Thema Lage der Nation geworden. Schlauberger gerade in Union und FDP versuchen einer in weiten Teilen bestenfalls flüchtig informierten Öffentlichkeit mit dem Grundgesetzartikel 16a klarzumachen, wie „irregulär“ oder „illegal“ sich Hunderttausende in Deutschland aufhalten. Denn darin heißt es, dass sich aufs Asylrecht nicht berufen könne, „wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“

Der entsprechende Passus von 1993 diente schon vor drei Jahrzehnten dem, was heute „Zustrombegrenzung“ genannt wird und faktisch die Abwehr von Geflüchteten meint. Zehntausende unterzeichneten erfolglos den Appell „Flüchtlinge schützen“, darunter Günther Grass und Herbert Grönemeyer, Wolfgang Niedecken, Marcel Reif, Hella von Sinnen oder Konstantin Wecker.

Schlussendlich wurde die Änderung angenommen. 14 Stunden hatte der Bundestag debattiert. Der damalige CDU-Innenminister Rudolf Seiters argumentierte wie heute Friedrich Merz (CDU) und seine Gefolgsleute mit dem Willen der deutschen Bevölkerung, die diesen Beschluss „seit Langem erwartet“ hätten. Ganz nebenbei: Dass eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung ein Tempolimit auf Autobahnen, mehr Bescheidenheit bei den Diäten der Bundestagsabgeordneten oder eine stärkere Besteuerung von Millionären erwartet, ohne dass die Unionsparteien sich derlei zu eigen machten, tut natürlich nichts zur Sache.

Aktuelle Forderungen können nicht umgesetzt werden

Auf der einen Seite wird also schon lange die politisch gewünschte Abwesenheit legaler Migrationsmöglichkeiten zu Gesetzen. Trotzdem kommt völlig unter die Räder, in welchen Fällen tatsächlich von „illegal“ oder „irregulär“ die Rede sein kann. EU-Recht und Grundgesetz ziehen klare Grenzen. Nach den Dublin-Regeln muss ein Land binnen sechs Monaten die Einreiseroute von Flüchtlingen klären und vor allem, ob ein Asylantrag schon in einem anderen Mitgliedsstaat gestellt worden ist. Gelingt dies nicht fristgerecht, kommt ganz legal und regulär der sogenannte Selbsteintritt zur Anwendung. Zuständig ist dann das letzte Aufnahmeland für alle weiteren Verfahren.

Während weitere Verschärfungen der Rechtslage diskutiert werden, steht die Umsetzung der bestehenden vor hohen Hürden: Zwei Drittel der deutschen Ausländerbehörden sind noch nicht digitalisiert und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) längst nicht alle Stellen besetzt.

Die gegenwärtig grassierenden Grenzschließungsfantasien dürften sich in einer nur schwer vorstellbaren Umsetzung ebenfalls als personalintensiv erweisen: Nicht nur müssten rund um Deutschland Zäune und Mauern gezogen werden, sondern dort, wo die regulären, tagtäglichen Grenzkontrollen stattfinden – zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg pendeln mehr als 60.000 Menschen – auch noch Schnellgerichte arbeiten. Von den neuen Abschiebehaftplätzen ganz zu schweigen. Heribert Prantl überlegte im Februar 2025 in der „Süddeutschen Zeitung“, was es denn praktisch bedeuten würde, wenn tatsächlich alle Ausreisepflichtigen (etwa 42.000) sofort inhaftiert werden sollten, so wie es Merz fordert. Man bräuchte laut Prantl allein dafür eine Zahl von Haftplätzen, „die sechzig Prozent der gesamten derzeitigen Gefängniskapazitäten in Deutschland ausmachen. Wer soll das bezahlen? Woher soll das Personal kommen?“. Fragen über Fragen, an deren Beantwortung zu viele Wähler:innen – ganz offensichtlich – überhaupt nicht interessiert sind.

Grüne Jugend gegen Habecks Migrationspläne

Die Koordinatenverschiebung, die weit verbreitete Zustimmung zur Abschottung ist bitter vor allem für SPD und Grüne. Beide Parteien haben sich von Ursprungspositionen meilenweit entfernt. Schon die Amnesty-International-Kritik von 2023 war mit einem Zitat von Ministerpräsident Winfried Kretschmann illustriert: „Wir müssen die irreguläre Migration begrenzen.“ Der Grüne hatte seit seinem Amtsantritt 2011 nach und nach in seiner Partei zu Mehrheiten für eben jene „Begrenzung irregulärer Migration“ beigetragen, etwa: Ausweisung weiterer sogenannter sicherer Herkunftsstaaten, mehr Abschiebungen samt Haft, umfassende Grenzkontrollen.

Ohne Kretschmanns Kurs wäre auch das jüngste Papier des grünen Vizekanzlers Robert Habeck unvorstellbar. Der hat in der vergangenen Woche eine „Sicherheitsoffensive“ in zehn Punkte gegossen, um die „irreguläre Migration weiter zu reduzieren“. Damit löste er heftige innerparteiliche Kritik aus – vor allem daran, wie die Themen Flucht und Sicherheit vermengt werden. Die Grüne Jugend hat ein Gegenpapier erarbeitet und bekennt sich darin zur feministischen Außenpolitik, zum Grundrecht auf Asyl, zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen wie der Genfer Flüchtlingskonvention, zum subsidiären Schutz und der europäischen Menschenrechtskonvention. Verlangt werden unter anderem sichere Fluchtrouten und – mit Blick auf den psychisch kranken Aschaffenburger Täter – Hilfe für alle und ein „diskriminierungsfreies Gesundheitssystem“.

Geradezu skurril ist, wie nicht einmal solche Konflikte dazu führen, dass Union und FDP zumindest das Ringen um Positionen bei der politischen Konkurrenz anerkennen. Die Ludwigsburger CDU nimmt für sich in Anspruch, in ihrem Podcast „heiße Eisen anzupacken“. Zur Asyldebatte äußert sich in der aktuellen Folge Steffen Bilger, örtlicher Bundestagsabgeordneter und Bezirksvorsitzender in Nordwürttemberg. Er behauptet einfach, dass SPD und Grüne sich jeglichem Kompromiss und jeder Lösung aus wahltaktischen Gründen verweigert hätten. Das mache ihn traurig und sei verantwortungslos.

Völlig losgelöst von den durch Rote und Grüne mitgetragenen Maßnahmen zur Abwehr von Geflüchteten stellte Kanzlerkandidat Merz in der Debatte zum sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz die Grundsatzfrage: „Sind wir uns einig, dass der Zustrom von Asylbewerbern in die Bundesrepublik Deutschland begrenzt werden muss? Ja oder nein?“ – was ganz so klingt, als gäbe es bislang überhaupt keine Begrenzung und jeder Mensch auf der Welt könnte bei Lust und Laune einfach so über die deutsche Grenze spazieren.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach daraufhin von der Sorge, dass „wir hier reinschlittern in eine völlig faktenfreie Diskussionsgrundlage“ und listete konkrete Maßnahmen auf, die gerade die Grünen nicht ohne Bauchschmerzen mitgetragen hätten. Das wiederum veranlasste den CDU-Abgeordneten Thorsten Frei, Wahlkreis Schwarzwald-Baar, zu einer Kurzintervention, in der er der Ministerin eine „völlig faktenfreie Rede“ und „Lügengeschichten“ unterstellte.

Fakt ist, dass sich bei der Verringerung von Geflüchtetenzahlen allein in den vergangenen dreieinhalb Jahren viel getan hat. Anfang 2025 hatte die rot-grüne Bundesregierung ein 23-seitiges Papier veröffentlicht, in dem alle Veränderungen und Verschärfungen seit Amtsantritt der Ampel zusammengefasst sind. „Wir haben so viel gemacht“, beteuert Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD), der engste Vertraute von Olaf Scholz, inzwischen landauf landab in Interviews. Die (zu) spät gestartete Informationskampagne verfehlt ihre Wirkung in der breiten Öffentlichkeit ganz und gar.

Massive Verschärfungen sind bereits Gesetz

So sind Kontrollen an allen deutschen Landesgrenzen bereits seit vergangenem September möglich, zudem wurden Leistungskürzungen beschlossen, die Residenzpflicht verschärft, Wohnungsdurchsuchungen in Flüchtlingsunterkünften ebenso vereinfacht wie die Abschiebung kranker Menschen. Die Zahl der Asylanträge ist 2024 im Vergleich zum Vorjahr um knapp ein Drittel gesunken, die der Abschiebungen um mehr als ein Fünftel gestiegen.

Davon unbeirrt fordern Markus Söder (CSU) bis Sahra Wagenknecht (BSW) ein Ende der „unkontrollierten Zuwanderung“ und im Bundestag poltert der Abgeordnete Frei, Grüne, SPD und insbesondere Annalena Baerbock seien „völlig unwillig, auch nur den kleinsten Schritt hin zu Begrenzung, Ordnung und Steuerung von Migration in Deutschland zu ermöglichen. Sie wollen keine Begrenzung von Migration in Deutschland! Dann sagen Sie es auch!“

Kanzleramtsminister Schmidt ärgert sich indessen, „wie man mit Sprücheklopfen durchkommt“ – und hätte diesem Ärger besser schon früher Luft gemacht. Dann hätten sich Fachleute, Flüchtlingsrät:innen, Ehrenamtliche und nicht zuletzt interessierte Bürger:innen vielleicht früher zusammengefunden. So wie eben erst Jusos und Grüne Jugend im Land, die gemeinsam „die inhaltliche Leere des Zustrombegrenzungsgesetzes“ beklagen und in ihm nichts weiter sehen als „eine populistische Blendgranate – ohne Substanz, ohne Weitblick, ohne Wirkung“, allein Symbolpolitik auf dem Rücken Schutzsuchender. Das im Bundestag durchgefallene Gesetz löse keine Probleme, die würden vielmehr verschärft, indem es „der Angstmacherei der AfD hinterher rennt“. Das sei ein „gefährliches Scheinmanöver zugunsten der Rechtspopulisten“.

Am Ende tut Friedrich Merz so, als sei die Ablehnung seines Gesetzesentwurfs mit einer Politik der offenen Grenzen gleichzusetzen. „Anstatt den Standort Deutschland und den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch wenig problemlösungsorientierte Debatten zu schwächen, ist eine sachliche Auseinandersetzung mit bestehenden Herausforderungen notwendig“, drängt derweil der Landesbeirat für Integration und rät, die verbliebene Rest-Wahlkampfzeit zu nutzen. Noch blieben ein paar Tage Zeit bis zum 23. Februar. Und niemand ist gehindert daran, Stimmung zu machen gegen die Stimmung.

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