: Politik des Ressentiments
Holland ist überall (7): Die Niederlande machen vor, was auch in Deutschland denkbar ist – Populismus und eine moralisierende Politik sollen den Sozialstaat ersetzen
„Holland ist überall“ heißt diese Serie. Und tatsächlich kann ein islamistischer Mord wie an Theo van Gogh überall geschehen. Trotzdem führt der Titel in die Irre: Er suggeriert eine Vergleichbarkeit, die es bisher nicht gibt. Holland pflegt ganz eigene Obsessionen. Es ist ein Land, das seit drei Jahren tagtäglich über die Zuwanderer und die eigene Identität debattiert. So weit ist Deutschland noch nicht, obwohl sich die Union und das konservative Feuilleton periodisch um die Leitkultur sorgen. Wie sehr sich die beiden Nachbarn – noch – unterscheiden, zeigt sich wohl am deutlichsten an ihren politischen Eliten.
Da ist zunächst der christdemokratische CDA-Ministerpräsident Jan Peter Balkenende, der nicht als programmatischer Denker bekannt ist. Nie würde er so leidenschaftlich für eine Kopfpauschale streiten wie CDU-Chefin Angela Merkel. Stattdessen ist Balkenende strenggläubiger Calvinist und versteht sich als oberster Prediger seines Landes. „Normen und Werte“ heißt die unkonkrete Mission.
Diese quasireligiöse Ausrichtung überrascht in einem Land, in dem die Atheisten die Mehrheit stellen. Aber Balkenende will die Ungläubigen nicht bekehren – sondern sie an eine gemeinsame Identität erinnern. Es gilt zu definieren, was „niederländisch“ ist. Diese Moralisierung der Politik ist Balkenendes Antwort auf Pim Fortuyn.
Auch einen Pim Fortuyn kennt die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht. Er machte das Ressentiment zur Mehrheitsmeinung. Die „Hinterzimmerpolitiker“ in Den Haag lehnte er ebenso ab wie die muslimischen Migranten. Pimmetje sah sich als Kreuzritter gegen den Islam, denn der sei unvereinbar mit der niederländischen Kultur und der Trennung von Staat und Kirche. Wäre Fortuyn nicht im Mai 2002 von einem radikalen Tierschützer erschossen worden, vielleicht hätte er es bis zum Ministerpräsidenten gebracht.
Mit ihm begann eine neue Ära: Alle Parteien versprechen inzwischen eine „neue Politik“ für die „neuen Niederlande“. Fortuyns Partei LPF zerfiel zwar und schrumpfte von 26 auf 8 Parlamentssitze. Dennoch hat die Konkurrenz nie vergessen, dass Fortuyn ad hoc 17 Prozent der Stimmen mobilisieren konnte. Das Parteienspektrum rückte nach rechts. „Die Ratten sind aus ihren Löchern gekrochen. Jeder redet jetzt wie Fortuyn“ – man muss es ja nicht ganz so drastisch ausdrücken wie der LPF-Fraktionsvorsitzende Van As. Aber er hat Recht.
Vor allem die rechtsliberale Regierungspartei VVD versucht, die Fortuyn-Stimmen zu binden. Dies soll nicht zuletzt Ayaan Hirsi Ali leisten, für die es ebenfalls keine Entsprechung in der deutschen Politik gibt. Die Parlamentsabgeordnete stammt ursprünglich aus Somalia, hat dem Islam abgeschworen und eignet sich daher ideal, um diese „rückständige Religion“ pauschal abzuwerten. Wer, wenn nicht diese ehemalige Muslima, könnte überzeugend behaupten, dass der Islam alle Frauen in die Knechtschaft zwingt. Es interessiert in den Niederlanden nicht besonders, dass sich viele Muslimas in dieser Beschreibung nicht wiederfinden. Zu groß ist die Erleichterung der Einheimischen, dass endlich jemand sagt, was sie schon lange denken.
Auch einen Kolumnisten wie Theo van Gogh hat Deutschland nicht. Es ist unvorstellbar, dass seine platten Beleidigungen von Muslimen, Juden oder politischen Gegnern hier gedruckt würden. Allerdings war van Gogh auch in den Niederlanden keineswegs populär. Es schätzte sich selbst zu Recht als „Dorfnarr“ ein.
Diese Rolle hat er mit seinem Film „Submission“ verlassen. Vordergründig war es eine Provokation wie immer; diesmal wurden Koranverse auf die nackte Haut einer Frau geschrieben. Wie gewünscht, fühlten sich viele Muslime beleidigt. Tatsächlich aber ging der angebliche Dorfnarr einen Pakt mit der Staatsmacht ein: Er hat ein Drehbuch von Ayaan Hirsi Ali verfilmt. Die Provokation eines van Gogh wurde so zur Programmaussage der Regierungspartei VVD – sie wurde eingefügt in die staatliche Politik des Ressentiments.
Bisher hat es den etablierten Partei nichts genutzt, dass sie nach rechts gerückt sind. Stattdessen profitiert eine One-Man-Show namens Geert Wilders. Auch er ist ein niederländisches Original, das in Deutschland bislang fehlt. Sein einziges Thema: die Gefahren des Islam. Erst kürzlich ist der Abgeordnete aus der VVD ausgetreten, inzwischen sagen ihm Meinungsumfragen 28 Sitze voraus – mehr als Pimmetje je hatte.
Der Diskurs dürfte sich also weiter radikalisieren, auch weil die Niederlande – anders als Deutschland – noch nicht die Erfahrung gemacht haben, wie tödlich Worte sein können. Es existiert zwar eine lebhafte Neonaziszene, die Moscheen anzündet und White-Power-Zeichen hinterlässt. Aber noch ist kein Ausländer durch einen Neonazi ermordet worden. Auch sonst irritiert die eigene Vergangenheit nicht. Man muss nicht eine Massenvernichtung von jüdischen Mitbürgern verarbeiten. Es gab zwar Kollaborationen, aber darüber wird kaum geredet.
Aus der hitzigen Debatte haben Beobachter oft gefolgert, dass die Migrationsprobleme in den Niederlanden besonders groß seien. Und zunächst wirkt die Statistik auch so: Von 16 Millionen Einwohnern zählen 3,1 Millionen als Zuwanderer, davon gelten 1,6 Millionen als „nichtwestlich“. Dieser offizielle Sammelbegriff verharmlost die niederländische Geschichte jedoch ein wenig, denn die allermeisten „nichtwestlichen“ Zuwanderer stammen aus den ehemaligen Kolonien Indonesien, Surinam und den Antillen. Dennoch wird oft der Eindruck erweckt, als würden die Niederlanden demnächst nur von „nichtwestlichen“ Marokkanern bewohnt. Tatsächlich sind es 306.000, hinzu kommen 351.000 Türken. Zudem zählt jeder als Zuwanderer, der ein Elternteil hat, das nicht im Land geboren wurde. So betrachtet leben in Deutschland etwa 14 Millionen Migranten.
Nicht die Probleme unterscheiden die beiden Länder, sondern noch sind es die herrschenden Diskurse. Der Fortuyn-Experte Dick Pels macht ein neues Politikmuster in den Niederlanden aus: den „asozialen Liberalismus“. Dabei vereinigen sich Konservatismus, Liberalismus und Fortuynismus ideologisch. Auch die christdemokratische CDA verabschiedet sich vom Sozialstaat und setzt auf Marktradikalismus – wie die rechtsliberale VVD schon länger. Diese musste jedoch erkennen, dass die postulierte Freiheit für den Leistungsstarken nicht ausreicht. Der Wähler verlangt nach Werten, die Gemeinschaft stiften. Da bietet es sich für Konservative und Liberale an, das ausgrenzende Gedankengut von Pim Fortuyn zu übernehmen: Wer Muslim ist, kann nicht zur niederländischen Kultur gehören.
Auch in Deutschland wird der Sozialstaat abgebaut; nicht erst seit den Arbeitsmarktreformen Hartz IV nehmen die Unterschiede zwischen Arm und Reich messbar zu. Schon stellt sich auch hier die Frage, was die Bürger eint. Der Patriotismus-Parteitag der CDU hat gezeigt: Es könnte bald die Angst vor den Fremden sein. ULRIKE HERRMANN