: Politik aus der Armee
■ Militärbefehlshaber fordern von Gorbatschow die Verhängung des Ausnahmezustands/ Scharfer Protest aus Litauen gegen die vom Präsidenten geforderten Vollmachten
Litauens Präsident Landsbergis hat die Ankündigung des sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow auf dem Moskauer Volksdeputiertenkongreß, notfalls in den Krisenregionen des Landes den Ausnahmezustand oder das Präsidialregime einzuführen, in scharfer Form zurückgewiesen. In einer Erklärung betont er, den Befehl zu einer solchen Maßnahme gegenüber Litauen würde ein Präsident geben, „der nicht unser Präsident ist“. Landsbergis fragte: „Wer hat ihn [Gorbatschow] überhaupt gewählt?“ Der litauische Präsident verwahrte sich zugleich gegen den Begriff 'Separatisten‘: „Das ist ein friedlicher Kampf annektierter Völker für ihre Unabhängigkeit und Freiheit.“
Gorbatschow hatte am Vortag im Kongreß der Volksdeputierten gedroht, solche Unionsrepubliken, in denen politische oder ethnische Konflikte Menschenleben bedrohten, unter Ausnahmezustand zu stellen oder die Präsidialherrschaft zu übernehmen. Die Rede Gorbatschows wurde in Moskau als Reaktion auf einen offenen Brief gewertet, der bereits am Dienstag unter den Volksdeputierten kursierte. Das von hohen Militärs, Abgeordneten und Schriftstellern unterzeichnete Papier fordert Gorbatschow dringlich dazu auf, „in Zonen der großen Konflikte“ den Ausnahmezustand zu verhängen. Der Brief ist unterzeichnet von Generalstabschef Moissejew, dem stellvertretenden Verteidigungsminister Warennikow und dem Oberbefehlshaber der Truppen des Innenministeriums, General Schatalin. Neben anderen hat auch der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Alexij II., den Brief mitunterzeichnet. In Moskau wird allgemein davon ausgegangen, daß die Initiative für den Aufruf vom Militär ausgegangen ist und von all denen unterstützt wird, die ein Auseinanderbrechen der Sowjetunion mit allen Mitteln verhindern wollen. Als Kriterium für die Verhängung des Ausnahmezustandes geben die Unterzeichner ein Versagen der verfassungsmäßigen Formen des „Einwirkens auf Seperatisten und kriminelle Geschäftemacher“ an. Die Gesellschaftsordnung, die in den letzten 70 Jahren unter größten Opfern geschaffen worden sei, sei ernsthaft bedroht. afp/dpa/taz
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