Dichtung & Wahrheit: Poesie als Spektakel
■ In den Ländern Lateinamerikas boomen überall Poesiefestivals
Es klingt merkwürdig für das deutsche Publikum: In Lateinamerika gibt es einen „Lyriktrend“, der schon durch die gesamten neunziger Jahre hindurch unvermittelt anhält. Überall auf dem Subkontinent sind Poesiefestivals begründet worden, die gerne und regelmäßig besucht werden. Im westkolumbianischen Medellin veranstalten die Herausgeber der Lyrik-Zeitschrift Prometeo, Ángela Garcia und Fernando Rendón, seit 1991 das jährlich stattfindende Festival Internacional de Poesia mit dem für europäische Verhältnisse unorstellbaren Zuspruch von jeweils mehr als 50.000 ZuhörerInnen. Heutzutage ist es das größte Poesiefestival auf dem panamerikanischen Kontinent, an dem im vergangenen Juni mehr als 40 DichterInnen von fünf Kontinenten, aus 26 Ländern und 13 Sprachen teilnahmen. Im Vorfeld des diesjährigen VI. Internationalen Poesiefestivals in Medellin wurde jüngst die erste lateinamerikanische Escuela de Poesia unter der Leitung des kolumbianischen Dichters Jairo Guzmán und in Zusammenarbeit mit der Wiener Schule für Dichtung gegründet, an der innerhalb von zwei Juniwochen insgesamt sieben poetische Meisterklassen, Poetikvorlesungen, Schreibwerkstätten und Kursvorführungen abgehalten wurden.
Seit 1993 gibt es in der zweitgrößten argentinischen Hafen- und Tangostadt Rosario das Festival Latinoamericano de Poesia mit einem Schwerpunkt auf die Mercosur-Länder Argentinien, Uruguay, Brasilien und Paraguay. Aber auch in San José de Costa Rica, Caracas, Quito, Lima, Santiago de Chile und Montevideo sind weitere neue poetische Festivals aufgekommen. Der brasilianische Dichter Affonso Romano de Sant'Anna hat über die Poesiekultur im aktuellen Heft 3 der Münchner Lyrikzeitschrift Das Gedicht berichtet: „Äußerst interessante Dinge geschehen in Lateinamerika. In Kolumbien gibt es beispielsweise Veranstaltungsreihen für Krankenhäuser und für eine Schule mit taubstummen Kindern, die vom Kunstbüro Medellin organisiert werden. In vielen Stadtvierteln gibt es Poesiebüros, die auch für Kinder geöffnet sind.“ Dort wird Kunst als sozialpädagogischer Dienst praktiziert, der kreative Überlebensstrategien zu vermitteln versucht. Das geschieht größtenteils ehrenamtlich. Der wirtschaftliche Aufschwung im wilden Kapitalismus Lateinamerikas hat vielerorts für sozialen Sprengstoff gesorgt. Die Demokratisierung wird von Korruptionsskandalen und steigender Überlebenskriminalität überschattet. Der Alltag zeigt viele erschreckende Gesichter.
Die fieberhafte Suche nach einem intellektuellen Halt führt in Lateinamerika Hunderttausende zur Dichtung. Laut Meinungsumfragen liegen die Dichter an erster Stelle auf der Beliebtheitsskala der lateinamerikanischen Bevölkerung.
Beim III. Poesiefestival in Rosario, das im Juni 1995 stattfand, erinnerte der Lyriker Reynaldo Sietecase an die lebensbedrohlichen Zeiten der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Argentinien, als junge Dichter im nächtlichen Schutz der Dunkelheit die Hauswände mit Gedichten bemalten, um ihre Stimme zu erheben und so ein öffentliches Forum zu erreichen. Mehrere Autoren wurden damals von Militärpatrouillen aufgegriffen und gehören seitdem zu den Verschwundenen, deren Schicksal bis heute noch nicht aufgeklärt ist. Die perfiden Bekenntnisse ehemaliger Befehlshaber der „Todesflüge“ mit betäubten Gefangenen, die über dem Atlantik oder über dem Rio de la Plata abgeworfen wurden, haben das unbewältigte Thema der desaparecidos aktualisiert. Auf die Verwicklungen der katholischen Kirche wurde bereits aufmerksam gemacht. Bislang wird aber noch eine überfällige Stellungnahme dazu vermißt.
Im Juni 1996 fand das inzwischen IV. Lateinamerikanische Poesiefest im argentinischen Rosario statt. Die Zeiten der Katakombenkultur oder des Exils gehören nun der Vergangenheit an. Neue Lyrikzeitschriften, Institutionen und Poesiepreise sind entstanden. Der Argentinier Roberto Juarroz schreibt: „Lateinamerika hat jede denkbare Verwahrlosung und zahllose Ungerechtigkeiten erlitten. Da gibt es mehr als genug Raum für Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. Es gibt für uns eine Notwendigkeit der Poesie, der Literatur, des künstlerischen Ausdrucks, der Kultur ... Die Literatur ist keine willkommene Ablenkung und auch kein Glanzstück oder Ruhmesblatt, wie so mancher Politiker oder Technokrat glaubt.“ Tobias Burghardt
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