Plutoniumwolke treibt über Sibirien

■ Explosion in der russischen Plutoniumfabrik von Tomsk: Zwanzigfach erhöhte Radioaktivität in der Umgebung / Behörden verharmlosen den Unfall gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde

Moskau/Berlin (AP/taz) – Ein Rundfunksprecher bat die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren. Mit Erfolg: Niemand geriet in Panik. Wer in Tomsk wohnt, ist seit langem an tödliche Gefahren in nächster Nähe gewöhnt. Manche wußten noch gestern mittag nicht, daß sich am Dienstag ein schwerer Atomunfall zwanzig Kilometer vor der Stadt ereignet hatte. Dort liegt die verbotene Zone Tomsk-7, auch heute noch ein abgesperrtes Gebiet, in dem jahrelang fünf Reaktoren das Plutonium für die sowjetischen Atomwaffen erbrütet haben. Zwei davon sollen noch immer in Betrieb sein.

Das Sperrgebiet von Tomsk heißt heute unverfänglich und schlicht „Chemiefabrik“. Es ist aber keine, sondern eine komplexe Anlage zur Trennung der Reaktor- Rückstände in wiederverwertbares Uran, unbrauchbare Spaltprodukte und Plutonium – eine Art atomare Wiederaufarbeitungsanlage also.

Die Nachrichten über den Unfall sind bisher widersprüchlich. Will man ihnen glauben, hat sich das hochradioaktive Gemisch in einem unterirdischen Lagertank überhitzt, als Salpetersäure „hinzugegeben wurde“, wie sich der russische Atomminister Viktor gegenüber der Umweltschutzorganisation Greenpeace ausdrückte.

Salpetersäure ist in der Tat ein gebräuchliches Mittel zur Wiederaufbereitung abgebrannter Reaktorbrennstäbe, die hier kein Abfall, sondern erwünschtes Vorprodukt der Bombe sind. Der Lagertank, offenbar integraler Teil der militärischen Wiederaufbereitungsanlage, ist explodiert – das dazugehörige Gebäude sei „vollständig zerstört worden“ heißt es in einem Bericht der russischen Behörden an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien.

Rätselhafterweise sei aber „Radioaktive Strahlung aus der Anlage nicht entwichen“, fährt dasselbe offiziöse Dokument fort. Die Beschwichtigung dürfte selbst Atomlobbyyisten verblüffen.

Denn das – gleichfalls offiziöse – Regionalkomitee für Umweltschutz in Tomsk hatte kurz nach der Explosion eine um das Zwanzigfache erhöhte Radioaktivität in der Umgebung des Unglücks festgestellt. 1.000 Hektar Land sollen verseucht sein, der Leiter der Regionalverwaltung schätzt, daß ein mindestens acht Kilometer langer und ein Kilometer breiter Landstreifen betroffen ist.

Die Atombehörde in Moskau stufte den Unfall auch umgehend als „schwer“ ein, und teilte mit, sechs mobile Zivilschutzeinheiten seien in der Nähe des Unglücksortes bereits im Einsatz. Die Rettungstruppen werden mit ihrer Gesundheit bezahlen müssen: Wie die Agentur Interfax in Erfahrung gebracht hat, waren Feuerwehrleute, die den nach der Explosion enstandenen Brand löschten, einer Strahlung von 0,6 Röntgen ausgesetzt. Mit erhöhtem Krebsrisiko ist in jedem Fall zu rechnen.

Das Gefährdungspotential der explodierten Anlage ist noch nicht abzuschätzen. Vor allem die sogenannten „Spaltprodukte“ (Cäsium-Isotope) strahlen mit hoher Energie. Noch verheerender dürften die Plutoniumteilchen wirken, die mit der Explosionswucht ins Freie geschleudert wurden. Der radioaktive Staub kann leicht über die Lunge in den menschlichen Körper gelangen, wo er sich vor allem in den Knochen einlagert. Schon wenige Millionstel Gramm des Alfa-Strahlers bringen den Tod.

Wenn die Angaben stimmen, hätte lediglich die Wetterlage das Schlimmste von den etwa 500.000 Einwohnern und Einwohnerinnen von Tomsk abgewendet: Die radioaktive Wolke sei durch den Wind in „unbewohnte Gebiete“ weggetrieben worden. nh