Plünderung jüdischen Eigentums: Billigende Inkaufnahme
"Wie Deutsche ihre jüdischen Mitbürger verwerteten": Die Enteignung der Juden ist gut dokumentiert. Wolfgang Dreßen hat die Akten gesichtet.
Es gibt zweierlei Schuld: Die, planmäßig ein Verbrechen begangen zu haben, und die, eines zu ermöglichen und zuzulassen. Alfred Döblin
Dr. Wolfgang Dreßen, geb. 1942 in Düsseldorf, Politikwissenschaftler, Historiker, Ausstellungsmacher. Er wuchs in Krefeld auf - sein Vater war Polizeirat, seine Mutter Dienstmädchen und später Hausfrau. Er besuchte das Gymnasium am Moltkeplatz, studierte in Tübingen und Berlin, gehörte zum undogmatischen Flügel des SDS, war von 1968 an Lektor und Autor im Wagenbach Verlag (verblieb nach der Spaltung 1972 als einziger Lektor ). Dort konzipierte und betreute er die Rotbücher und gab, bis er 1977 gekündigt wurde, die Buchreihe Sozialistisches Jahrbuch Politik heraus. Daneben arbeitete er bei der anarchistisch-libertären Zeitung Agit 883. Ab 1977 jobbte er als Taxifahrer und promovierte 1982 bei Jacob Taubes in Berlin. Danach war er beim Museumspädagogischen Dienst tätig. 1994 bis 2008 leitete er die Arbeitsstelle Neonazismus an der Fachhochschule Düsseldorf und organisierte verschiedene Ausstellungen, u. a. zur Enteignung der Juden ab 1933 in Deutschland. 1998 erschien dazu sein Buch "Aktion 3. Deutsche verwerten ihre jüdischen Nachbarn" im Aufbau-Verlag. Dreßen ist u. a. Mitglied im Beirat des Internetprojekts "Informationen zur deutschen Außenpolitik" und des wissenschaftlichen Beirats der Bildungsgemeinschaft Soziales, Arbeit, Leben, Zukunft (SALZ).
Beamte vernichten keine Akten. Schon gar nicht Finanzbeamte. Dieser Hemmung verdankt sich der Umstand, dass in den Finanzämtern Deutschlands, Österreichs und der Schweiz immer noch "Arisierungsakten" aus der Zeit des Nationalsozialismus gelagert werden. Es handelt sich um Dokumente, die den bürokratischen Vollzug der Ausplünderung der Juden als rassisch definierter Gruppe zeigen. Und sie zeigen das Zusammenspiel von Behörden, Institutionen und der nutznießenden Bevölkerung, bei der "Arisierung" von jüdischem Geld und Gut.
Götz Aly nennt das treffend den " staatlich gelenkten, jedoch gemeinnützigen Massenraubmord". Die Einkünfte aus der sukzessiven Ausplünderung wurden akribisch vermerkt, mit Stempel und Unterschrift besiegelt und abgelegt. Auch die Versteigerungslisten für die Habe der Deportierten und Ermordeten finden sich, ordentlich abgeheftet, mit Ort, Datum, Erlös und den Namen der Käufer. Es handelt sich also um brisante Akten, die eine direkte Zu- und Mitarbeit der Behörde und ihrer Beamten bei der Einleitung und Durchsetzung der Vernichtungspolitik belegen. Die "Arisierungsakten" wurden nach dem Krieg von den Alliierten weitgehend übersehen und gerieten als "normale" Steuerakten in baldige Vergessenheit.
Aber nicht ganz. Nach dem Ablauf der 30-jährigen Aktensperre wurden sie 1988 auf 80 Jahre gesperrt, mit Verweis auf das Steuergeheimnis. 2009 wurde vom Bundesminister für Finanzen eine Historikerkommission eingesetzt, um die Geschichte des Reichsfinanzministeriums aufzuarbeiten. Wegen der Aktensperre ist es nur sehr wenigen wissenschaftlich interessierten Leuten gelungen, dennoch Einsicht zu nehmen. Wolfgang Dreßen war einer der Ersten. Es gelang ihm Ende der 90er Jahre, nach unablässigem Insistieren, Zugang zu den "Arisierungsakten" der Oberfinanzdirektion Köln zu bekommen.
Erster Anhaltspunkt
Elisabeth Kmölniger und ich trafen ihn unlängst zum Frühstück im ehemaligen Palmenhaus der Königlichen Gartenakademie in Dahlem. Er erzählte uns, wie er an die Akten kam und was er darin fand: "Also den ersten Anhaltspunkt, dass es überhaupt solche Akten gibt, den erhielt ich Ende der 80er Jahre, noch vor der Wende, in Berlin. Damals arbeitete ich noch im Museumspädagogischen Dienst, und wir haben 1986 eine Ausstellung gemacht: "Adass Jisroel. Die jüdische Gemeinde in Berlin (1869-1942). Vernichtet und vergessen".
Der Mario Offenberg, der jetzt Geschäftsführer der Gemeinde ist, arbeitete mit und kam, weil er als Betroffener seine Familiengeschichte recherchierte, auch ins Archiv der Oberfinanzdirektion. Damals habe ich zum ersten Mal diese Versteigerungslisten gesehen, die haben wir auch ausgestellt. Und dann gibt es ein Buch aus den 70er Jahren, von einem Mann, der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, H. G. Adler, ,Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland'. Er war an die Akten des Finanzamtes Würzburg gekommen und hat das sehr genau beschrieben. Das hatte ich also alles im Kopf.
Und als ich dann in den 90er Jahren die Professur in Düsseldorf bekam, dachte ich, das wäre das richtige Thema und habe in der Oberfinanzdirektion Düsseldorf nachgefragt. Die sagten aber, sie hätten diese Akten nicht. Später erfuhr ich, dass eine Anweisung an die nachgeordneten Ämter in Düsseldorf rausgegangen war, man möge von einer Beantwortung meiner Anfragen "absehen". Die nächste Oberfinanzdirektion ist in Köln, aber auch dort sagte man mir, sie hätten die Akten nicht.
Eines Tages bekam ich aber einen anonymen Anruf, von einer Frau aus der Oberfinanzdirektion. Ich kenne sie bis heute nicht, aber sie soll gerühmt werden! Sie sagte mir, sie hätten die Akten, ich solle dranbleiben. Und dann habe ich in einem endlosen Antragsverfahren, inklusive einer Anfrage der Grünen im Bundestag, es endlich geschafft. Eines Tages kam ein Brief aus Köln, dass ich mal vorbeikommen solle. Ich gab an, dass ich einen Aufsatz schreiben wolle, und musste per Unterschrift versichern, dass ich alles anonymisiere aus Datenschutzgründen und diesen Aufsatz vorlege.
2.000 Akten gesehen
Und dann war ich im Archiv. Zwei relativ kleine Räume unterm Dach, vollgestopft. Man hatte den Eindruck, dass da niemand drin war seit langer Zeit. Verstaubt und etwas durcheinander lagen dort etwa 20.000 Akten. 2.000 davon habe ich gesehen. Ich hatte ja nur eine begrenzte Zeit. Die Akten beginnen 1941, unmittelbar nach der 11. Verordnung des "Reichsbürgergesetzes". Sie besagte, dass ein Jude, der seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, die deutsche Staatsangehörigkeit verliert und nach dem Verlust der Staatsangehörigkeit sein Vermögen ans Reich fällt. Ebenso nach seinem Tode. Wie heimtückisch und niederträchtig der gesamte Prozess gehandhabt wurde, zeigt sich auch an § 12: "Diese Verordnung gilt auch in Böhmen und Mähren und den eingegliederten Ostgebieten." Denn was viele nicht wissen, Auschwitz lag ja in Oberschlesien, also auf deutschem Gebiet. Diese 11. Verordnung war sozusagen der letzte Zugriff auf das, was, so im O-Ton, "die zur Deportation anstehenden Juden" noch hatten.
Mit dieser 11. Verordnung fangen also die Akten an, das war sozusagen das unmittelbare Vorspiel zum Holocaust. Ich saß da allein, habe gelesen und dachte, ich werde verrückt, über dem Wahnsinn, der da drin stand. Mir wurde klar, das muss öffentlich werden! Und wie es dann so ist, mit der Zeit verliert der Pförtner sein Misstrauen. Jemand, ich sage den Namen nicht, machte mir ein sehr gutes Kopiergerät zugänglich. Ich kam mit voller Aktentasche und habe perfekte Farbkopien gemacht, die aussehen wie Originale. Danach habe ich die Akten sorgsam wieder zurückgebracht, unversehrt und vollständig. Also es war kein Diebstahl, aber das durfte ich natürlich überhaupt nicht! Es war keine Frage, diese Dokumente müssen gezeigt werden, es reicht nicht, drüber zu schreiben. Hier geht es ja nicht nur um die Vergangenheit, hier es geht auch um die Gegenwart!
Nur eine Abmahnung
Ich beschloss, eine Ausstellung zu machen, und habe mit dem damaligen Leiter des Düsseldorfer Stadtmuseums gesprochen, Wieland Koenig, der sofort bereit war. Eine mutige Entscheidung. Das wurde mir erst später so richtig klar, als anderswo die Ausstellung abgelehnt wurde, z. B. 2000 von der Humboldt Uni; sogar gestützt durch ein Expertengutachten. Das muss man sich mal vorstellen! Jedenfalls, Herr Koenig und ich haben die Ausstellung dann insgeheim vorbereitet, auch der Kulturdezernent der Stadt wusste nichts davon. Damals mussten wir ja noch damit rechnen, dass sie verboten wird.
Ich habe mich, um das abzuwenden, an Michel Friedman gewandt - das war noch vor seiner Affäre -, er war sehr freundlich und ist zur Eröffnung gekommen. Ich denke, das war ein gewisser Schutz vor direktem Einschreiten. Die Oberfinanzdirektion machte natürlich Ärger beim Rektor der Hochschule und beim Wissenschaftsminister. Da ich aber kein Beamter war, also nicht dem "besonderen Treueverhältnis" unterstand, konnte mir auch nicht viel passieren. Ich bekam nur eine Abmahnung.
Der eigentliche Skandal - für viele Historiker übrigens - war dann aber gar nicht so sehr der Inhalt der Akten, sondern dass ich nichts anonymisiert hatte. Ich habe keinen der Namen geschwärzt. Und das war gut so. Das zeigt auch der Film zum Thema von Michael Verhoeven: "Menschliches Versagen", eine Dokumentation, die er zum 70. Jahrestag der Novemberpogrome gemacht hat, die auch im Fernsehen gezeigt wurde und jetzt auch in der Wanderausstellung gezeigt wird. Darin werden z. B. die Nachkommen einer Familie Levi interviewt. Sie leben in New York und erfuhren zufällig durch den Bericht eines englischen Journalisten von der Ausstellung, dass dort auch die Akte eines vermissten Verwandten gezeigt wird. Sie sagten: "Unsere Verwandten verschwanden vom Erdboden." Aus der Akte geht hervor, sie hatten die Schiffspassage bereits bestellt und bezahlt, durften dann aber nicht mehr ausreisen. Das war für die Nachkommen die erste Spur, nach so langer Zeit. Und da sieht man, wie wichtig es ist, nicht zu anonymisieren, nicht die Spuren zu verwischen!
Schon gar nicht die der Täter. Weshalb soll ich Arisierungsprofiteure schützen? Von denen hat sich noch keiner beschwert. Es gibt Firmen, die haben richtig schwer Geld verdient, z. B. die Transport-Firma Kühne & Nagel, besonders im Rahmen der "M- Aktion". M stand für Möbel. Das muss ich kurz erklären: Die im Rahmen der M-Aktion beschlagnahmten Möbel, ursprünglich für die Verwaltungen der besetzten Gebiete und des Reiches vorgesehen - zuständig war das Amt Rosenberg, sozusagen das Amt für Kunstraub -, wurden dann ab 1942 im Reich in großem Stil auf Massenversteigerungen veräußert. Und diese Möbel, die wurden rangeschafft aus Frankreich, Belgien, Niederlande, beschlagnahmt und herausgeholt aus, wie es hieß, "unbewachten jüdischen Wohnungen", den Wohnungen der Deportierten und untergetauchten jüdischen Bürger. Das sind Unmengen von Zügen und Frachtschiffen, die diese Beute nach Deutschland brachten, gechartert von Kühne & Nagel. Von der Firma habe ich noch nicht ein Wort gehört. Die wären ja auch dumm - das ist heute ein international tätiges Logistik- und Transportunternehmen -und damit würde es ja auch bekannt, wenn sie gegen mich klagen. Die Belege in den Akten sprechen für sich.
Der plündernde Staat
Aber mal zu den Akten selbst: Also, wenn man da so drübersitzt und blättert in den Originalen, sieht die handschriftlich ausgefüllten Bögen? Ganz vorn ist immer die "Verfügung", obenauf liegend. Da steht drauf, weshalb das Verfahren rechtens ist. Das ist sehr wichtig, denn die übliche Sicht auf "Arisierung" ist ja der plündernde SA-Mann, der Mob. Das war die Ausnahme. Hier aber sehen wir sozusagen die Regel, den plündernden Staat, die vollziehende Behörde, die Vorschriften und Verfahren korrekt einhält. Und wie kam die Verfügung, dieses wichtige Dokument ins Haus? Das brachte der Gerichtsvollzieher per Zustellungsurkunde. Derselbe Gerichtsvollzieher, den man auch am Hals hatte als Schuldner. Also der Vollstreckungsbeamte. Oft war er vielleicht nicht mal in der Partei.
Dann folgt die Vermögenserklärung, es wird alles abgefragt, was man sich nur vorstellen kann, vom Geld und Aktienvermögen, über Bücher, Bilder, bis hin zum Nachtschrank, der Kuchengabel. Jedes Detail musste angegeben und erfasst werden. Jedes Familienmitglied, auch jedes Kind, musste das ausfüllen. Wenn es noch nicht schreiben konnte, musste der Haushaltsvorstand es vertreten bei der Vermögenserklärung. Die Finanzbehörde war über die bevorstehende Deportation informiert, die Vermögenserklärungen mussten rechtzeitig ausgefüllt sein. Selbst diejenigen, die schon in Sammellagern waren und bereits alles verloren hatten, mussten die Erklärung ausfüllen. Sie gehört sozusagen zum letzten Akt der Entrechtung und Enteignung.
Zusätzlich gaben die Banken, Sparkassen und Versicherungen natürlich jederzeit alle gewünschten Auskünfte mit "Heil Hitler", die Leute hatten ja auch Versicherungen, Rentenansprüche, Sparkonten. Manche hatten, trotz der "Judenbuße" in Milliardenhöhe nach den Novemberpogromen und all den anderen Ausplünderungen, noch Reste von Vermögen. Das sollte natürlich genauestens erfasst werden für die Verwertung. Es ist den Akten schon von außen anzusehen, wenn Vermögen im Spiel war, dann ist die Akte dick. Es gab ja viel zu verteilen.
Quittung vom Spediteur
Aber es gibt natürlich viele dünne Akten, die bestehen nur aus einigen Blättern. Im Ruhrgebiet z. B., wo viele katholische Bergarbeiter aus Polen leben, gab es auch viele jüdische Bergarbeiter aus Polen. Die hatten bereits die deutsche Staatsbürgerschaft und waren 1938 bei der "Polenaktion" nicht ausgewiesen worden. In der Akte steht dann z. B. Willy Lichtenstein aus Oberhausen, geb. 1906, hatte "keine nachweisbaren Vermögenswerte". Seine Habe erscheint auf einem Versteigerungsprotokoll vom Februar 1942: 1 Herrenhut, 2 Paar Schuhe, 3 Paar Strümpfe, 5 Krawatten, 5 Kragen. Aber auch das wurde, wie alles andere, abgeholt und versteigert. Die Juden wurden in Sammellager gebracht bis zur Deportation. Jemand hat dann die verlassenen Wohnungen noch mal überprüft, sie wurden desinfiziert und versiegelt, bis der örtliche Spediteur kam - in Köln war das z. B. die Firma Roggendorf, die gibt es heute noch -, um alles abzuholen und einzulagern für die Massenversteigerung. Das liegt in der Akte, auch die Quittung vom Spediteur, schön abgeheftet.
Ganz wichtig ist als Nächstes die Versteigerung. 1941 gab es unter dem Decknamen "Aktion 3" genaue Weisungen vom Reichsfinanzministerium an die Oberfinanzdirektionen, wie mit dem Vermögen und der Verwertung von eingezogenem Hab und Gut zu verfahren sei. Es gab Massenversteigerungen u. a. in der Messehalle Köln und im Schlachthof Düsseldorf. Die Versteigerungslisten liegen in den Akten. Es gab Anzeigen in den Zeitungen, wann und wo die Versteigerungen stattfinden. Massenversteigerungen, auch der erbeuteten Möbel und Haushaltsgegenstände aus Westeuropa, von denen ich schon gesprochen habe. Es gab tumultartigen Andrang bei den Versteigerungen jüdischen Eigentums. Und es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen "aus nichtarischem Besitz". Man hat das nicht verheimlicht, man konnte sich auf die Bereicherungslust und auf den Antisemitismus verlassen. Jeder, der etwas kaufte, bekam eine Quittung, auf der stand oft sogar: "aus dem Besitz des Juden/der Jüdin" soundso, also auch noch geschlechtskorrekt.
Das ganze Dorf macht mit
Wie ausgeprägt dieser Antisemitismus war, sieht man besonders bei jenen Akten, die die Versteigerungen auf dem Dorf betreffen, wo der Vorgang ja nicht anonym war. Da brauchte man keinen Spediteur, die Möbel wurden auf die Straße gestellt, die Wohnung leer geräumt. Alles wurde vom Gerichtsvollzieher versteigert. Und es kamen dann wirklich die Nachbarn, um die Habe der kurz vorher Deportierten billig zu kaufen, bis hin zu den Einmachgläsern mit Inhalt. Es gibt Listen in den Akten, die zeigen, wer was ersteigert hat und zu welchem Preis. Ich habe bei einem Dorf mal abgeglichen, die Anzahl der Bewohner und der Käufer damals, um zu sehen, wie viele Leute da nicht mitgemacht haben. Aber es hatten so gut wie alle mitgemacht. Auf den Dörfern war es häufig so, dass die reicheren Viehhändler Juden waren. Man hatte bei ihnen vielleicht einen Kredit aufgenommen, hatte Schulden. Und da kommt auch noch so ein verquerer Antikapitalismus ins Spiel, das hieß, die reichen Juden sind jetzt weg, und nun können wir uns die Sachen wieder aneignen.
Ich mache jetzt einen Sprung. Dann, wenn man weiterblättert, wird plötzlich klar, die Akte hört 1945 gar nicht auf! Das war sehr verblüffend für mich! Auf den Formularen steht immer noch beispielsweise Finanzamt Grevenbroich, nur das Hakenkreuz war überstempelt. Dann steht da eben nicht mehr: "auf Grund des Reichsbürgergesetzes", sondern es steht nun: "auf Grund alliierter Anordnung". Also die Akten umfassen den Zeitraum von der bevorstehenden Deportation bis zur eventuellen Restitution, also maximal etwa 15 bis 20 Jahre.
Und oft sind es dieselben Unterschriften. Dieselben Gerichtsvollzieher, dieselben Beamten, die z. B. den alliierten Stellen vermelden, es sei durch Bombeneinwirkung der gesamte Aktenbestand verloren gegangen. Oft machten dieselben Beamten Arisierung und Restitution. Der Chef der Oberfinanzdirektion Köln, also ein Verantwortlicher für die Durchführung der fiskalischen Verfolgungs- und Ausplünderungsmaßnahmen, wurde sogar in den 50er Jahren Chef des Bundesausgleichamts und war damit zuständig für die "Wiedergutmachung".
In diesen Verfahren zur "Wiedergutmachung", das muss man sich mal vorstellen, hatten die überlebenden Opfer die Beweislast zu tragen. Sie mussten nachweisen, was ihnen weggenommen wurde. Bei Grundstücken kann man das Grundbuchamt heranziehen. Aber bei versteigertem Hausrat? Sie hatten keine Quittungen. Die lagen in der Akte. Und wenn der Gerichtsvollzieher sagt, er hätte keine Unterlagen, was oft vorkam, obwohl es gelogen war, dann konnten sie nichts beweisen.
Gesetzliches Verfahren
Es gibt den Fall einer jungen Frau, einer Überlebenden. Sie war als Fünfzehnjährige 1942 deportiert worden. Nach Auschwitz, zusammen mit ihren Eltern. Die wurden ermordet. Sie kehrt nach 1945 in ihr Heimatdorf zurück und geht von Haus zu Haus - das kann man in den Akten lesen - und fordert die Rückgabe des Eigentums ihrer Familie. Sie muss mutig gewesen sein. Es schlägt ihr die blanke Aggression entgegen, sie wird bedroht und muss sogar unter Polizeischutz gestellt werden. Sie sieht den Gerichtsvollzieher auf ihrem Fahrrad herumfahren und ist wütend. Er hat es ihr natürlich ausgehändigt. Dann bekam sie aber ein Schreiben von der Oberfinanzdirektion Düsseldorf - das ist auch in der Akte - in dem wird sie "in schärfster Form gerügt", weil sie sich ihr Recht selbst sucht und durchsetzen will. Sie wird auf das "gesetzliche Verfahren" verwiesen. Es hatte und hat ja alles seine Ordnung.
Die penible Einhaltung der Ordnung und Verordnungen bei der "Arisierung", die gab es in den Ostgebieten natürlich nicht, während man in Deutschland und selbst im Westen sehr darauf bedacht war, alles "ordnungsgemäß" - auch so ein Lieblingswort - abzuwickeln. Ein Beispiel aus den Akten: Ein Tabakhändler beglückwünscht die Oberfinanzdirektion, gibt seiner Genugtuung Ausdruck, dass man diesen Juden deportiert hat, einen Großhändler, bei dem er Schulden hatte, immense Schulden. Er schreibt, bei Juden, da hat man immer Schulden, denn das sind ja die allseits bekannten "jüdischen Machenschaften", die einen in die Schulden treiben.
Er bekommt aber einen reservierten Brief zurück, die Schulden seien ans Reich übergegangen und er müsse sie nun ans Finanzamt bezahlen. Er schreibt zurück, er sei doch schon vor 33 in der Partei gewesen! Aber vergeblich. Wo käme man da hin, wenn jeder sich bedienen und plündern dürfte, es könnte dann ja auch zu Übergriffen auf "arisches" Eigentum kommen. Es ging und geht um die Stabilität und Legitimität der bürgerlichen Ordnung.
Aber die Legitimität eines Verhaltens wird eben nicht dadurch garantiert, dass es legal ist. Deshalb muss man immer vom "Unrechtsstaat" reden. Ein Dokument, das auch in der Ausstellung hängt, zeigt sehr schön dieses Dilemma. Bei einer Gerichtsverhandlung nach 1945 schreibt ein Richter, dass das Ausmaß des "gesetzlichen Unrechts" immer größer wurde. Und dann hat er - denn man schrieb noch auf Schreibmaschinen - das "gesetzlich" durchgeixt und hat drüber geschrieben "gesetzten", des "gesetzten Unrechts". Er konnte es nicht ertragen!
Die Nachbarn profitierten
Also wenn man heute diese Akten anguckt und wenn man bedenkt, welche Unsummen der Fiskus insgesamt durch die "Arisierung" eingenommen hat, durch die totale Verwertung, vom Bankkonto bis hin zur Schuhbürste, alles!, dass die Opfer sozusagen die Kosten für ihre eigene Deportation und letztlich Ermordung selbst bezahlt haben? Und wenn man sich in den Akten anschaut, wer sich was angeeignet hat? Ich sag mal, die Nachbarn direkt oder im weitesten Sinne, dann wird das ganze Ausmaß der allgemeinen Bereicherung deutlich.
Man fragt man sich auch, wie viele dieser Dinge sind heute noch im Gebrauch, wurden vererbt, werden weiter genutzt, tauchen immer noch bei Antiquitätenhändlern und auf Flohmärkten auf? Im Kölner Finanzamt brach unter dem Andrang der Interessenten der Dienstbetrieb zusammen, es wurde eine Anzeige in die Zeitung gesetzt, persönliches Vorsprechen von Kaufinteressenten sei nicht möglich. Es gab sozusagen einen enormen Ansturm. Auch alle möglichen Institutionen haben sich versorgt, es gibt Listen der Bücher, die sich das Juristische Seminar in Bonn angeeignet hat. Bibliotheken haben sich bedient, das Diakonissenheim hat sich mit Einrichtungsgegenständen eingedeckt, das Waisenheim, das Schulamt, die Fordwerke, Ärzte haben Mikroskope erworben, Klaviere und Flügel gingen an Musikschulen oder andere Kaufliebhaber. Betuchte Interessenten erwarben Gemälde und andere Kunstgegenstände.
Die "Ausgebombten" erhielten als Zuwendung Mobiliar und Hausrat, sie saßen an Tischen und schliefen in Betten aus jüdischem Besitz. Ritterkreuzträger wurden mit den edleren Stücken bedacht. Also es gab keine Bevölkerungsgruppe, Berufsgruppe oder Institution, keine Schicht, die da nicht gekauft und sich bereichert hätte. Immer mit dem Wissen darum, dass diese Dinge aus jüdischem Besitz stammten. Und sogar die Leibwäsche der Deportierten wurde genutzt. Es gibt z. B. einen Frachtbrief aus dem Protektorat, aus Theresienstadt, da steht unübersehbar drin - und das hat jeder Beamte, durch dessen Hände das ging, abgestempelt: gebrauchte Wäsche aus jüdischem Besitz. Die wurde über viele Stationen nach Köln transportiert."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml