: Platz für die, die anders sind
In der Nähe von Lübeck soll auf einem alten Gutshof das „Zukunftsdorf“ Bliestorf entstehen. Hier sollen unter anderem Menschen leben, die zwar nicht im engen Sinne „Behinderte“ sind, aber auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht unterkommen
„Und nun soll ich visionär gucken, ja?“ Joachim Lentz sitzt auf einem Plastikstuhl vor einer baufälligen Scheune und blinzelt in die Sonne. In letzter Zeit hat er oft Presse zu Besuch gehabt und da soll er immer visionär gucken für die Fotografen – es gibt sonst noch nicht so viel zu sehen im „Zukunftsdorf Bliestorf“. Das wird sich ändern: Die Scheune wird umgebaut, teils zu Wohnungen, teils als Lagerraum für den Landwirt Roman Böhm. In ein paar Jahren sollen hier Kinder spielen, Sägen rattern, Tagungsgäste auf dem Kiesweg vor dem Herrenhaus des ehemaligen Ritterguts vorfahren. Und vor allem: Menschen sollen hier leben und arbeiten, die sonst keinen Platz finden – weil sie zu langsam sind, zu unruhig, zu anders.
Bliestorf in der Nähe von Lübeck liegt idyllisch zwischen Feldern und Wäldern. Seit den 1950er Jahren gibt es ein Kinderheim und eine Förderschule im Dorf. Lentz ist dort Lehrer – und er ist Vater einer Tochter, die dort unterrichtet wurde. Vor einigen Jahren fand sich eine Gruppe von Eltern, die alle vor der gleichen Frage standen: Welche Chancen haben ihre Kinder? Da hatte Joachim Lentz sein Schlüsselerlebnis bereits hinter sich: Für ein Ehemaligentreffen suchte er Schüler auf, die er einst noch an einer anderen Schule unterrichtet hatte. „Sie hingen alle zwischen Baum und Borke“, sagt er. „Sie passten nicht in Werkstätten für Behinderte, fanden aber auch nichts auf dem ersten Arbeitsmarkt.“ Lentz spricht von einer immer größer werdenden Gruppe: Die „Grenzgänger“, wie er sie nennt, sind nicht behindert, aber sie haben Lernschwächen, soziale Defizite, kleine und größere Macken. Das „Zukunftsdorf“ will ihnen einen Platz bieten, zum Leben und Arbeiten. Willkommen ist darüber hinaus jeder, der bereit ist, sich auf das Konzept einzulassen.
Im klassizistischen weißen Herrenhaus wohnt Familie von Schröder, der das Gelände bisher gehörte. Das Gebäude soll erst in einem zweiten Schritt Teil des Zukunftsdorfes werden, zurzeit beginnt die Arbeit in den Scheunen und auf den Ackerflächen, die Landwirt Böhm für seinen Demeter-Hof gepachtet hat. „Ich muss jetzt anfangen, auch wenn noch nicht alles bis ins letzte Detail geklärt ist“, sagt er. Für ihn läuft die Zeit: „Es muss sich bald klären, ob das hier rentabel ist.“ Immerhin: Zwei „Grenzgänger“ hat er schon eingestellt.
Eine Zimmerei und ein Stahlbaubetrieb stehen in den Startlöchern, und Pfosten markieren schon das Grundstück einer Sägerei. Deren Rückepferde können in die Boxen einziehen, in denen einmal Kutschpferde standen. Geplant ist auch ein Block-Heizkraftwerk. „Wir brauchen weitere Leute“, sagt Christiane Müller, die ebenfalls zur Elterngruppe gehört: Es fehlten Berufe wie Altenpflege oder Hausarbeit – und jemand, der das Herrenhaus nutzt.
Für das Wohnprojekt wurde eine Genossenschaft gegründet. Aber nur billig leben auf dem Lande ist nicht, macht Lentz klar. Das Ziel heiße Nachbarschaftshilfe: „Frau Meier hilft Herrn Müller beim Schreibkram, dafür mäht er ihr den Rasen.“ Solche Vereinbarungen sind Teil des Mietvertrags, und jedem Bewohner müsse klar sein, dass er einen „Grenzgänger“ zum Nachbarn haben könnte. Bewerben müssen sich auch die: „Wir sind nicht die Nachfolgeeinrichtung des Kinderheims“, sagt Lentz. „Wer hier leben will, muss selbst kommen.“ Ob die Kinder der Elterngruppe je selbst hierher ziehen, ist offen: „Die sind jetzt 16, 17“, sagt Christiane Müller, „die wollen erstmal raus.“
Weil sich mit Nachbarschaftshilfe nicht alles lösen lässt, soll für Krisen ein professioneller Sozialdienst bereit stehen – unklar ist, wie der bezahlt werden soll. Zurzeit fühlt man bei den Ämtern vor, Kreis und Gemeinde begleiten das Projekt jedenfalls mit Wohlwollen.
„Dass man etwas tun muss, ist eine Binsenweisheit“, sagt Joachim Lentz, hebt die Schultern und guckt überhaupt nicht visionär. „Ich weiß, ich kann zurzeit nur Äcker und alte Gebäude zeigen. Aber wir sind auf einem guten Weg.“ ESTHER GEISSLINGER