Piratin Amelia Andersdotter: Im Parlament dank Lissabon
Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags verdoppelt die Piratenpartei ihre Präsenz im EU-Parlament. Amelia Andersdotter hat Attac-Wurzeln und wird die jüngste EU-Parlamentarierin aller Zeiten.
Ab 1. Dezember wird Amelia Andersdotter die Präsenz der Piratenpartei im EU-Parlament verdoppeln. Für die ersten Monate erst einmal nur als „Beobachterin“, bis alle Mitgliedsstaaten das entsprechende Zusatzprotokoll zum Lissaboner Vertrag unterzeichnet haben.
Mit dessen Inkrafttreten bekommt Schweden zwei zusätzliche Abgeordnete in Brüssel – ein Mandat entfällt dabei auf die bei der Europawahl mit 7,1 Prozent erfolgreichen Piraten. Und die 22-jährige Studentin wurde auf Platz 2 der „Piratpartiet“-Liste gewählt. Der drei Jahre älteren Dänin Emilie Turunen hat die Schwedin den Rang als derzeit jüngste Europaabgeordnete abgelaufen und ist nun jüngste EU-Parlamentarierin aller Zeiten.
Von einer Studentenbude in der Universitätsstadt Lund nach Brüssel – ein wenig nervös macht das schon: „Eine Zeitlang hatte ich Panik.“ Eigentlich will sie auch gar keine Politikerin werden. Da müsse man immer eine bestimmte soziale Rolle spielen, sich im Griff haben und mit mehr Autorität auftreten, als sie es bislang gewohnt sei. „Und man kann auch nicht einfach in Schlappen und T-Shirt ankommen.“ Die Abgeordnetenrolle werde sie wohl verändern und sie werde sich ändern müssen. „Ich will ja, dass man mich ernst nimmt und mir zuhört. Vielleicht sollte ich mir eine Bass-Stimme zulegen“, flachst sie.
Das muss sie sicher nicht. Selbst ohne Bass-Stimme überzeugte Andersdotter, die aus der ausserparlamentarischen Linken 2006 zur Piratenpartei kam, in der schwedischen Europawahlkampagne auch bei der Konfrontation mit gestandenen PolitikerInnen.
Bei politischen Debatten sammelte sie durch Sachwissen und ihr gewandtes Auftreten Punkte. Und ihre umfangreiche Fangemeinde kennt in Internetforen eigentlich nur ein kontroverses Thema zu Amelia mit dem Nick-Name @teirdes: Ihre Vokuhila-Frisur – vorne-kurz-hinten-lang -, die in Schweden auch längst out ist und dort „Hockeyfrilla“ genannt wird, weil sie in den achtziger Jahren vor allem bei Eishockeyspielern beliebt war.
Nicht von Rudi Völler, sondern nach eigener Aussage schon als Sechsjährige von Roxettes Per Gessle hat sie sich die abgeguckt und seither nicht mehr geändert. Aber sie sei ja auch bei ihrem Musikgeschmack am Anfang der 80er Jahre hängengeblieben: „Ab 1984 wurde alles schlechter.“
Ein Schock werde es für sie sicher werden, plötzlich so viel Geld zu verdienen. Derzeit finanziert die „Piratin“ ihr Mathematik-, Volkswirtschafts- und Spanisch-Studium mit 350 Euro im Monat, „Ich hatte bislang nie mehr als monatlich 800 Euro und plötzlich bekomm ich das zehnfache“.
Davon will sie viel spenden. Vorwiegend an Gruppen, in denen sie selbst aktiv ist. Neben der Piratenpartei Attac, die linke Kulturgruppe Ordfront, Amnesty und bei den Vereinten Nationen der Frauenentwicklungsfonds Unifem. Vielleicht bekommt auch „Nova science fiction“, Schwedens grösste Science-Fiction-Zeitschrift, in deren Redaktion sie sitzt, etwas ab. „Und meine bisherigen Studienschulden kann ich in zwei Monaten abzahlen.“
Kommt sie nur aufgrund des Lissabon-Vertrags ins Parlament, steht sie diesen doch vorwiegend kritisch gegenüber: „Der europäischen Demokratie ist nicht damit gedient, dass man einen solchen unpopulären Vertrag einfach durchdrückt.“
Als Einfragepartei mit begrenztem politischem Repertoire sieht sie die Piratenpartei nicht. Neben Integritätsfragen, um die sich schon ihr „Mitpirat“ im Parlament, Christer Engström kümmert, will sie sich auf handelspolitische Fragen spezialisieren. „Meiner Meinung nach betreibt die EU eine Linie in der externen Handelspolitik, die sowohl für die Entwicklung der EU, vor allem aber für die in den Dritte-Welt-Ländern ein Hindernis ist.“
Das internationale Patentrecht sei nicht nur schlecht für die Konkurrenz, sondern auch schädlich: „Es führt dazu, dass die Menschen wie die Fliegen sterben, weil sie nicht die richtige Medizin bekommen.“ „Ich habe die Ambition etwas zu bewegen“, sagt Andersdotter. Und sie hofft, dass die Berge an EU-Akten ihr auch in Zukunft Zeit für ihre Lieblingslektüre lassen: Science-Fiction und Stan Sakais Mangaserie über Usagi Yojimbo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu