Pilze züchten in Frankreich: Beim Gärtner der Nacht
Pilzanbau in alten Steinbrüchen hat in Frankreich Tradition. Was dort wächst, schmeckt nach einer feinen Melange aus Nüssen, Wald und Höhle.
Angel Moïolis Arbeitsplatz beginnt hinter dem rostigen Eisentor, das ins Innere eines Berges führt. Feucht und angenehm kühl ist es hier, ein dunkles Labyrinth aus verwinkelten Gängen und Höhlen. Fünf Hektar umfasst das Gelände. „Viel Platz zum Spazierengehen,“ wie Moïoli augenzwinkernd sagt. An den Wänden stapeln sich Paletten und Obstkisten, in einer Ecke rostet ein Pick-up vor sich hin, spärlich beleuchtet von wenigen Leuchtröhren.
Der 61-Jährige Moïoli ist ein champignonniste, einer der letzten traditionellen Pilzzüchter Frankreichs. Sein Arbeitsplatz: Die Kammern eines ehemaligen Kalksteinbruchs in einem 800-Seelen-Ort rund 30 Kilometer nordwestlich von Paris.
Jardiniers de la nuit nennt man die Züchter, Gärtner der Nacht. Wer hier arbeitet, darf keine Angst vor Stille und Dunkelheit haben. Moïoli, der schon als Kind in den Stollen gespielt hat, wollte nie etwas anderes machen: „Ich komme aus einer Pilz-Familie. Mein Opa, mein Vater, meine Onkel: Alle haben Pilze gezüchtet.“
Er zieht eine der grünen Planen zur Seite, mit denen die einzelnen Kammern vom Gang abtrennt sind. An den Wänden stehen, wie Stockbetten in einer Jugendherberge, die Metallgestelle, in denen die Pilze wachsen.
Geschultes Auge, Fingerspitzengefühl
Früher arbeitete man direkt am Boden, heute nutzt man mit Plastikplanen ausgelegte Becken. Sie werden mit einer Mischung aus fermentiertem Pferdemist und Stroh befüllt, der anschließend mit Pilzsporen geimpft wird. Darauf kommt eine dünne Schicht aus Torf und zerkleinertem Kalkstein, wofür Moïoli – „bestes Recycling“ – alte Steine verwendet, die von den Arbeitern einst in den Gängen zurückgelassen wurden.
An einigen Stellen stehen die Champignons schon dicht gedrängt, an anderen sieht man nur einen weißen Flaum. „Noch eine Woche und da kommt ein kleiner Kopf raus.“ Was wir als Pilze kennen und essen, sind die Fruchtkörper, ein kleiner Teil des weit verzweigten unterirdischen Pilzgeflechts. Sobald sich dieses Myzel wie zarte Zuckerwatte an der Oberfläche zeigt, gießt Moïoli die Becken mit kaltem Wasser. Dieser „thermische Schock“ kurbelt das Wachstum an. Wie im Wald, wenn kalter Regen auf warmen Boden fällt.
Tag für Tag pickt der Züchter von Hand die reifen Exemplare heraus. Sein Werkzeug: Ein geschultes Auge und Fingerspitzengefühl. Sie müssen auf Druck leicht nachgeben, der Hut muss leicht platt sein. Die Größe sagt wenig aus: Es gebe kleine Exemplare, die gerne à la grecque – in Tomaten-Weißwein-Soße – gegessen würden und faustgroße, die während der Grillsaison beliebt seien.
Wenn der Kompost nach vier Wochen ausgelaugt ist, werden die Becken gereinigt und neu befüllt. Eine Saison? „Gibt es nicht. Die Temperatur in den Stollen liegt ganzjährig bei rund 15 Grad.“ Und auch Sonnenlicht brauchen die Pilze, – die ihre Energie nicht wie Pflanzen durch Photosynthese, sondern aus dem Boden ziehen – nicht.
Die Idee mit dem Steinbruch und der Sonnenkönig
Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie oft direkt in der Stadt angebaut. In Steinbrüchen, Höhlen, Katakomben. Die erste champignonnière seines Großvaters lag nur wenige Kilometer vom Eiffelturm entfernt. Weshalb das, was bei uns „Champignons“ heißt, in Frankreich als champignons de Paris gehandelt wird – das französische champignon ist schlicht der Oberbegriff für Pilz.
Verdrängt von den zuziehenden Menschen und der 1900 eröffneten Metro, die die Pariser Unterwelt für sich beanspruchte, zogen die Züchter ins Umland. „Dorthin, wo es Kirchen und Schlösser gab. Denn wo Steine abgebaut wurden, gab es leere Stollen,“ erklärt Moïoli. Wie in seinem Kalksteinbruch.
Die Idee, sie in alten Steinbrüchen zu züchten, stammt aus dem 17. Jahrhundert, als Frankreichs Sonnenkönig seinen Herrschaftsanspruch mit Prachtbauten wie Schloss Versailles in Stein meißelte. „An den Eingängen der Steinbrüche waren die Ställe der Pferde, die die Steinblöcke zogen.“
Die Arbeiter sahen, wie auf den Misthaufen Pilze sprossen, infiziert durch Sporen wild wachsender Wiesenchampignons. Im Winter ließ man die Haufen in den dunklen Vorräumen liegen. Und war überrascht, dass die Champignons auch ohne Licht wuchsen.
Mehr Zeit, mehr Geschmack
Heute kommt ein Großteil der französischen Pilze aus modernen Zuchtbetrieben, in denen sie im Akkord heranwachsen, Luftfeuchtigkeit und Temperatur von Computern überwacht. „Ich arbeite mit der Natur, mit den Felsmauern und Steinen,“ sagt Moïoli. „Und der Computer, das bin ich.“
Je nach Wetter und Jahreszeit öffnet er das Eingangstor, um die Luftzufuhr zu steuern. In den Großbetrieben wachsen die Pilze dank hoher Temperatur wesentlich schneller heran. Bloß gilt wie bei Gemüse: Mehr Zeit bedeutet mehr Geschmack. „Schnelles Wachstum heißt mehr Wasser. Ein Industriechampignon schmeckt nach nichts. Ich gebe ihnen die Zeit, die sie brauchen“, sagt Moïoli. Mit geübten Fingern dreht er ein paar reife Exemplare ab, schüttelt die Erde ab und beißt hinein.
Der Geschmack? Eine feine Melange aus Nüssen, Wald und Höhle. Sie sind fest, kein Vergleich zur schwammigen Massenware, gleichzeitig aber zart, fast cremig. Dieser Genuss hat seinen Preis. „Man müsste sie eigentlich teurer verkaufen, aber es ist schwer, höhere Preise durchzusetzen“, sagt Moïoli.
Der nahe Pariser Großmarkt flutet die Region mit günstiger Ware aus Europa und Übersee, der Steinbruch liegt abgelegen. „Wenn sie zu teuer sind, kommt hier keiner extra raus.“ 2,50 bis 4 Euro bekommt er pro Kilo, je nachdem, ob er an Privatleute, Gastronomie oder lokale Genossenschaften verkauft.
Ein seltener Beruf
Die Bezeichnung champignon de Paris ist nicht geschützt. Ob ein Pilz aus einem jener traditionellen Betriebe wie dem von Angel Moïoli stammt, die den Pilzen einst ihren Namen gaben, aus französischer Massenproduktion oder aus China, dem weltweit größten Pilzexporteur, ist so nicht erkennbar.
Konkurrenz, knappes Einkommen, lange Arbeitstage ohne Tageslicht – während es in den 1960er Jahren in und um Paris noch über 100 traditionelle Zuchtbetriebe gab, sind es heute noch vier. „Alle aus meiner Generation,“ sagt der 61-jährige Moïoli.
„Der Beruf ist am Aussterben. Eines Tages wird es keine champignonnistes mehr geben.“ Zuletzt hat er wieder etwas Hoffnung geschöpft. Der Grund: die steigenden Energiepreise. Die Hallen für industrielle Zuchtpilze müssen im Winter geheizt und im Sommer gekühlt werden. „In den Stollen brauchen wir das nicht.“
Vielleicht, so Moïolis Hoffnung, besinnt man sich auf diese alte Technik. Nur: „Es muss bald geschehen, sonst gibt es niemanden mehr, der es erklären kann.“
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