Pilgern in der Schweiz: Im Bann der Berge
Vielleicht ist Goethe der wahre Nationalheld der Schweiz. Man wandert sagenhaften Heiligen hinterher und trifft doch immer wieder ihn.
Oben auf dem Berg fühlt man sich irgendwie leichter, atmet automatisch tief durch, genießt die Weite und den spektakulären Rundumblick hier auf dem Hörnli. Weit hinter uns der Bodensee, wo wir herkommen. Vor uns die Bergwelt der Zentralschweiz. 48 Schweizer Viertausender, bedeckt von ewigem Schnee. Unsere Zufallsgemeinschaft von Pilgern auf dem Schweizer Jakobsweg genießt die spektakulären Farben des Sonnenuntergangs.
Wir haben noch siebzehn Etappen vor uns, am nördlichen Alpenbogen entlang, bis zum Endpunkt Genf, wo der französische Wegabschnitt des Jakobswegs über Le Puy de Velay nach Santiago de Compostela beginnt.
Rapperswil, das nächste Ziel, liegt am Zürichsee. Es ist ein Bilderbuchsonntag. Von der Altstadt aus wandeln zahllose Menschen übers Wasser nach Pfäffikon hinüber. Ein Holzsteg über den See wurde jüngst gebaut.
Die Etappen: Der Jakobsweg durch die Schweiz in Richtung Santiago de Compostela führt auf 400 Kilometern am nördlichen Alpenbogen entlang vom Bodensee zum Genfer See. Üblicherweise wird er in 19 Tagesetappen unterteilt. Wer nicht sehr gut zu Fuß ist, sollte mehr Zeit einplanen oder zusätzlich die Ausflugs- und Fährschiffe auf den großen Seen nutzen.
Die Unterkünfte: Spezielle Pilgerherbergen gibt es erst wenige, empfehlenswert sind die Herbergen Rapperswil und Heitenried. Preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten bieten in der wärmeren Jahreszeit zahlreiche Bauernhöfe mit "Schlafen im Stroh" an. Dafür sind Schlafsack und Matte nötig.
Der Plan: Informationen über die Infrastruktur am Weg stehen im Pilgerführer "Schweiz: Jakobsweg" von Hartmut Engel, erschienen im Conrad Stein Verlag, 14,90 Euro. Besonderes Kartenmaterial ist nicht nötig, der Jakobsweg ist sehr gut ausgeschildert.
Im Netz: www.jakobsweg.ch
Ab Pfäffikon geht es lang und steil aufwärts über den Etzelpass und die St. Meinradskapelle zum Kloster Einsiedeln. Der Wallfahrtsort ist das wichtigste Pilgerzentrum der Schweiz. Alljährlich besuchen mehrere Hunderttausend Touristen und Pilger aus aller Welt die schwarze Madonna in ihrer Gnadenkapelle, einer von vielen innerhalb der reich verzierten Klosterkirche. Das tägliche Abendgebet der Mönche mit gregorianischen Gesängen ist beeindruckend. Im Mittelalter sammelten sich in Einsiedeln die Pilgerströme aus dem Osten und Norden Europas. Es ist ein reiches Kloster und ein großes Anwesen. Frühmorgens treibt uns mächtiges Glockengeläut aus den Betten.
Die Verführung, vom Weg abzuweichen, kommt in Gestalt eines bunten Prospektes über den "Schwyzer Panoramaweg". Alle Gedanken fixieren sich plötzlich auf die Gondel, die uns einen langen Aufstieg auf den nächsten Berg erspart und mehr dieser prächtigen Blicke verspricht.
Wir besteigen eine Gondel hinauf nach Holzegg und in jene Touristenzone, wo als Erstes die Terrasse eines Berggasthauses lockt. Wir sind den Schneebergen um einiges näher gekommen, die Aussicht über die Höhen und hinunter ins Tal zum Vierwaldstättersee ist großartig.
Der Panoramaweg, insgesamt zwanzig Kilometer lang, ist ein Highlight. Entlang der "Mythen", zwei hohen, wuchtigen Bergspitzen, die aus dem Höhenzug herausragen, erreichen wir das Gasthaus am Pilgerpass Haggenegg. Ein heftiger Gewitterregen nimmt uns allerdings den Mut für den Tausendmeterabstieg zum See.
"Der Stieg war abscheulich, über schlüpfrige, feuchte Matten." So beklagte sich bereits Johann Wolfgang Goethe. Und der war gut zu Fuß. Zweimal, im Juni 1775 und im Herbst 1797, kam der Dichter über die Haggenegg. Hier rastete er und verzehrte urigen Urner Käse samt Wein.
Wir folgen dem schönen Höhenweg bis zur nächsten Gondel ins Tal der Urschwyz.
"Swiss Knife Valley", so bezeichnet unser Prospekt diese geschichtsträchtige Region um den Vierwaldstättersee, in der die schweizerische Eidgenossenschaft 1291 mit dem Schutz- und Trutzbündnis der Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden ihren Anfang nahm.
Zum Gründungsmythos gehört auch der legendäre Widerständler Wilhelm Tell, den Friedrich Schiller mit seinem Drama zum Schweizer Nationalhelden machte. Goethe hatte Schiller die Sage vom Tell, die er am Vierwaldstättersee recherchiert hatte, zur Bearbeitung überlassen.
Auch in Stans, dem nächsten Etappenziel jenseits des vielbesuchten Sees, hielt sich Goethe auf. Ein Schild am ehemaligen Gasthaus auf dem Marktplatz erinnert an den Gast. Dreimal bereiste Goethe die Schweiz und bestieg jedes Mal den Gotthard. Er war einer der vielen europäischen Intellektuellen und Kosmopoliten des 18. Jahrhunderts, die aus der feudalen Enge und Starrheit ihrer heimatlichen Verhältnisse heraus dem Freiheitsmythos Schweiz folgten.
Der Weg zum nächsten bekannten Wallfahrtsort, nach Flüeli-Ranft, führt durch altes bäuerliches Kulturland, wo es vor über 200 Jahren sicher nicht anders aussah als heute. Eine Wanderung wie durch ein Freilichtmuseum. Die Glocken der Kühe bimmeln. Der einzige nennenswerte Neubau weit und breit ist das Kloster der Dominikanerinnen von Bethanien hoch oberhalb des Sarnersees. Es bietet eine herrliche Aussicht auf die Bergwelt der Umgebung und ist ein guter Übernachtungstipp.
Auf dem Weg nach Interlaken reiht sich See um See aneinander. Dort angekommen sind die Schneeberge so nah wie nie bisher. Interlaken liegt zwischen zwei Seen, verbindet den Brienzer- mit dem Thunersee, ein Logenplatz vor der Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau. Interlaken ist ein touristischer Klassiker. Die Grandhotels stammen aus der schönen, reichen Zeit des Reisens. Vor allem Japaner beleben den Ort. Inderinnen flanieren in bunten Saris. Die sportive Jugend verteilt sich auf Backpackerhostels, Interlaken ist das Zentrum der Paraglider.
Der Seewanderweg zu den Beatushöhlen führt dann durch ein Naturschutzgebiet. Beatus war der Legende nach ein irischer Mönch, der im sechsten Jahrhundert die Helvetier zum christlichen Glauben bekehren wollte. Oberhalb des Thuner Sees lebte er in einer Höhle. Doch vor Beatus stoßen wir wieder auf Goethe. Ist er der wahre Schweizer Nationalheld? Er beschrieb hier einen Efeubaum, dessen Stamm am Höhleneingang steht.
Ab Thun geht es in voralpines Gelände. Harte Beinarbeit ist wieder angesagt. Rüeggisberg ist eine Zäsur. Einerseits ein letzter traumhafter Rückblick, von der Klosterruine auf die Landschaft hinter uns, andererseits, nun ja, wie weit will man noch gehen? Wir sind im Bauernhof auf dem Klostergelände untergekommen. Keiner von uns wird vorerst die Grenze nach Frankreich überschreiten. Den Jakobsweg in Etappen zu gehen, sei üblich, sagt unsere Wirtin. Seit das Wandern auf den historischen Wegen wieder modern ist, tun das viele.
Dann schließlich: der Genfer See. Weinberge säumen seine Ufer. An der Lausanner Seepromenade fühlt es sich wie eine Ankunft im Süden an. Am anderen, südwestlichen Ende: Genf.
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