Pharma-Firmen: Ausgaben für Pillen steigen
Die Deutschen zahlen mehr Geld für Medikamente - doch die Pharmaindustrie beklagt sich trotzdem über Unterversorgung
BERLIN taz Die Deutschen haben auch im vergangenen Jahr mehr Geld für verschreibungspflichtige Arzneimittel ausgegeben. Das geht aus dem neuen Arzneimittel-Atlas hervor, den der Verband Forschender Arzneimittelhersteller am Donnerstag veröffentlichte. Demnach wurden an den Apothekenkassen insgesamt 563 Millionen Euro mehr umgesetzt als 2005.
Auffällig ist, dass in Ostdeutschland deutlich mehr Geld für Medikamente ausgegeben wurde. Nach Berlin, das als Zentrumsregion viele Brandenburger mitversorgt, liegt der Umsatz pro Kopf in Mecklenburg-Vorpommern mit 445 Euro beinahe 100 Euro über dem in Bayern. Danach folgen mit Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen drei weitere neue Bundesländer.
Der Autor der Studie, Bertram Häussler vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung, führt die Mehrausgaben auf den gestiegenen Verbrauch zurück. Auch habe eine "Umstrukturierung in Richtung teurerer Medikamente" stattgefunden. Zwar seien die Preise für Arzneimittel generell gesunken, Ärzte aber leichter bereit, mehr zu verschreiben oder das teure Produkt zu wählen. Dadurch konnten im vergangenen Jahr "eine Million Menschen mehr gegen Bluthochdruck behandelt werden", sagte Häussler. Trotzdem würden noch immer weniger Patienten medikamentös behandelt als eigentlich nötig. Deshalb rechnet er damit, dass die Ausgaben für Medikamente in den kommenden Jahren noch weiter steigen.
"In vielen Bereichen gibt es eine Überversorgung mit Mitteln, deren Nutzen nicht gesichert ist", sagt dagegen der SPD-Bundestagsabgeordnete und Mediziner Karl Lauterbach. Die Ärzte schöpften zu wenig die Möglichkeit aus, Nachahmemedikamente - sogenannte Generika - zu verschreiben. Den großen Unterschied im Verschreibungsvolumen zwischen Ost und West begründet er damit, dass die Ärzte in den neuen Länder "anfälliger für das Marketing der Pharmareferenten" seien. Mit der Folge, dass deutlich häufiger teurere Medikamente verschrieben würden. "Je teurer die Medikamente, desto eher werden sie im Osten verschrieben." In den strukturschwächeren ostdeutschen Ländern "sind die finanziellen Anreize der Pharmafirmen für Ärzte viel verlockender". Hier seien viel weniger Patienten in der Lage, ihren Ärzten das Einkommen aufzubessern, indem sie sich für teure Zusatzleistungen entscheiden, die sie selbst bezahlen.
Der Arzneimittelverband begründet den Unterschied zwischen Ost und West mit der Bevölkerungsentwicklung. Durch Abwanderung vor allem junger Menschen blieben mehr ältere, die häufiger ärztlich behandelt werden müssten. Anhand des Body Mass Index könne man sehen, dass die Menschen in Ostdeutschland insgesamt weniger gesund sind.
Der SPD-Politiker Lauterbach fordert, die Ausgaben für Medikamente zu verringern und stattdessen mehr in vorbeugende Untersuchungen zu stecken. Bei Menschen über 50 Jahren sei dies besonders effektiv. "Je einkommensstärker ein Land, desto mehr wird dort für Vorbeugung getan."
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