Pflege von Demenzkranken auf dem Land: Herr Doktor ist jedes Mal entzückt
Die Zahl der Demenzkranken steigt. Ihre Familien sind oft überfordert. Die Diakonie will die Nachbarschaftshilfe stärken. Doch Scham steht dem oft im Weg.
NEUSTADT AN DER ORLA taz |Der ehemalige Bürgermeister in Windeln, dieses Bild mochten die Angehörigen nicht einmal ihrem Pfarrer offenbaren. Und so verrammelten sie flugs seine Zimmertür im Obergeschoss des geräumigen Gehöfts, in der Hoffnung, der alte Herr, verwirrt und verwahrlost, möge zumindest nicht randalieren, solange der evangelische Superintendent Ralf-Peter Fuchs in der Stube im Erdgeschoss zu Besuch war.
Um die Demenz ihrer Mutter zu verbergen, schnallte im Nachbardorf eine Frau die 90-jährige Dame ans Bett, wenn der Geistliche zum Hausbesuch kam. Die Mutter, entschuldigte sie sich, erkenne nicht einmal mehr die eigene Familie, sie leide unter Angstzuständen, sie schlage um sich. Sie laufe weg. Die Tochter weinte.
Etwas tun gegen die Scham. Hat Ralf-Peter Fuchs gedacht damals, zwei Jahre ist das her. Nicht länger warten auf die Politik oder sonst wen. Sondern selbst anpacken. Bewusstsein schaffen. Hilfe organisieren, Nachbarn mobilisieren, die Familien entlasten, und sei es nur stundenweise.
Der Preis für unsere zunehmende Langlebigkeit heißt Demenz und kommt Ostdeutschland besonders teuer zu stehen: Der Bevölkerungsanteil der Demenzkranken verdoppelte sich in 15 Jahren, prognostiziert das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Neben der alternden Gesellschaft machen sich in der Alterspyramide ostdeutscher Regionen die Abwanderung junger Leute und der Geburtenknick nach der Wende besonders bemerkbar. Wenn vorwiegend alte Menschen zurückbleiben, so das Institut, steigt automatisch die Demenzquote.
Einen bundesweiten Höchstwert würde demnach 2025 die Stadt Hoyerswerda in Sachsen mit 3.660 Betroffenen pro 100.000 Einwohner erreichen. Das wären knapp dreimal so viele wie aktuell im Bundesdurchschnitt.
Ab einem Lebensalter von 65 Jahren steigt das Demenzrisiko deutlich an, jedenfalls solange es kein Heilmittel und keinen Impfstoff gibt. Viele Gemeinden und Landkreise suchen deswegen mittlerweile nach integrativen Konzepten. Zu DDR-Zeiten wurden Demente häufig mit Psychopharmaka ruhiggestellt und in Heimen versteckt. (hh)
Wegsperren daheim ist keine Option, zusätzliche Pflegeheime oder -dienste aber wird keiner finanzieren, die Sozialkassen sind leer, und es gibt ja nicht einmal mehr junge Leute im Saale-Orla-Kreis, Ostthüringen, die sich überhaupt interessieren würden für eine Ausbildung als Pfleger. Die sind nämlich alle abgewandert oder auf Montage in Bayern oder Baden-Württemberg. Nur die Alten werden immer mehr. Und müssen sich folglich gegenseitig helfen. Von allein wird sich das Problem nicht lösen, das hat Ralf-Peter Fuchs sofort gewusst, damals vor zwei Jahren. Und heute?
Stress tut nicht gut
Neustadt an der Orla, ein strahlend klarer Tag an der Schwelle zum Frühling. Schiefer und Fachwerk, Hügel und Talsperren, es sieht aus wie im Freiluftmuseum, eine menschenleere Landschaft 30 Kilometer südöstlich von Jena, dazwischen DDR-Gewerbebrachen, auf denen Zwergziegen grasen, und am Ortsausgang, direkt neben dem Friedhof, die "Seniorenpflege am Gries" der örtlichen Diakonie.
Ralf-Peter Fuchs, 50, sitzt im Besprechungszimmer, neben ihm der Leiter des Pflegeheims, die Geschäftsführerin des Diakonievereins und die Beauftragte für Sozialpolitik der Diakonie Mitteldeutschland. Die vier sind so etwas wie das Herzstück des "Netzwerks Nachbarschaftshilfe Demenz", das Fuchs 2009 ins Leben gerufen hat, als dritte, ehrenamtliche Säule neben stationärer und ambulanter Profipflege. "Wir gehen sehr kleine Schritte", sagt der Pfarrer. Es klingt nicht nach Entschuldigung, eher nach Erklärung.
Sechs Abendveranstaltungen haben die vier in den umliegenden Gemeinden in den vergangenen 24 Monaten durchgeführt, um den Menschen die Angst vor dem Umgang mit Dementen zu nehmen. Und natürlich, um Ehrenamtliche für die stundenweise Betreuung demenzkranker Nachbarn zu werben. Um zu verstehen, was Erfolg bedeutet, wenn man ein solches Projekt auf dem Land anschiebt, "wo verschwiegen, weggeschaut, tabuisiert und einander misstraut wird", wie Ralf-Peter Fuchs sagt, muss man sich den Pfarrer vorstellen wie einen euphorisierten Redner auf einer Großdemonstration, wenn er jetzt ruft: "Da waren zum Teil 20, 30 Leute!"
Unbeschäftigte Helfer
Leute wie Hannelore Risch, 62 Jahre, eine Frau, die zupackt, zu DDR-Zeiten als Werktätige der Agrochemie, später in den Verkaufsabteilungen diverser Unternehmen tätig, und dann, Anfang 2010: arbeitslos. "Ich kann doch nicht einfach zu Hause herumsitzen."
Kinder hüten wollte sie, aber weil Tagesmütter gerade nicht in die ostthüringische demografische Bedarfsplanung passten, begeisterte sich Hannelore Risch eben für Demenzkranke. Lernte, dass die Krankheit in drei Phasen verlaufe, zunächst innerer Stress aufgrund der wachsenden Vergesslichkeit, dann, in Phase zwei, zunehmende Verwahrlosung, Weglauftendenzen, manchmal Aggressionen und schließlich, weil Demenz nichts anderes bedeutet, als dass das Gehirn sich zersetzt: der Verlust sämtlicher Körperfunktionen.
Sie erfuhr, dass Demente aus ihrer Welt nicht mehr hinauskönnten, sie als Gesunde aber in ihre Welt eintauchen könne. Und dass Stress, beispielsweise bedingt durch einen Wohnortwechsel oder permanentes Anschreien durch überforderte Betreuer, den Krankheitsverlauf beschleunige. Also zu vermeiden sei. "Ich bin kein ängstlicher Typ", sagt Hannelore Risch. Spazieren gehen, Volkslieder singen, basteln, Mensch ärgere dich nicht spielen, Geschichten vorlesen - Hannelore Risch hatte viele Ideen, wie sie mit den alten Menschen ein paar nette Stunden verbringen könnte. Stunden, die die Angehörigen für sich nutzen könnten. Dachte sie.
Allein: Gebucht hat sie niemand bisher, ein ganzes Jahr lang nicht. Sobald es darum ging, Hannelore Risch, die Fremde, in die eigenen vier Wände zu lassen, machten die potenziell Interessierten einen Rückzieher. Diese Reaktion erlebten übrigens alle freiwilligen Helfer aus Neustadt und Umgebung bislang. Also unterstützt Hannelore Risch jetzt erstmal ehrenamtlich das Team im Pflegeheim Am Gries, einen Nachmittag pro Woche, wenn sie es einrichten kann.
Der "Herr Doktor" ist jedes Mal aufs Neue entzückt, Hannelore Risch kennenzulernen, sein Titel gehört zu den wenigen Dingen aus seinem Leben vor der Demenz, an die er sich erinnern kann. Er irrt immer öfter durch die Gänge des Pflegeheims, und wenn Hannelore Risch ihm dabei begegnet wie jetzt, dann sagt sie zuvorkommend: "Herr Doktor, möchten Sie in Ihr Zimmer? Kommen Sie, ich mache Ihnen die Tür auf." Darauf der Doktor, charmant lächelnd: "Ach, da wissen Sie mehr als ich!"
Diese Gesprächsführung, sagt Hannelore Risch, habe sie lernen müssen. "Wenn ich stattdessen fragen würde: ,Hallo, Herr Doktor, wo wollen Sie denn hin', würde ihm das bloß die eigene Desorientierung vor Augen führen und ihn unnötig kränken", sagt sie. "Demente sind sensible Menschen."
Und so gerät der Umgang mit ihnen oft zum Drahtseilakt. Zwang, das hat Hannelore Risch festgestellt, führt selten zum Erfolg. Jetzt gerade zum Beispiel ist Kaffeezeit, Tagesabläufe in Pflegeheimen sind starr von jeher, den Herrn Doktor aber interessieren Uhrzeiten längst nicht mehr, Pünktlichkeit hat für ihn jede Bedeutung verloren, es drängt ihn hinaus, laufen will er, jetzt, gleich, sofort! Er findet eine Tür, er öffnet sie, gleich ist er weg. Hilfe, was tun?
Anfangs hat Hannelore Risch in solchen Situationen Heimbewohner, denen sie körperlich gewachsen war, energisch an die Hand genommen, in den Speisesaal geführt, auf den Stuhl gesetzt und an den Kaffeetisch geschoben. Gekniffen wurde sie dafür, mitunter als "blöde Sau" beschimpft. Inzwischen weiß sie, wie sie es schlauer anstellen kann: "Mensch, Herr Doktor, gut, dass ich Sie gerade sehe, Sie hätten ja sonst beinahe den Kaffee verpasst, alle anderen sind schon da." Das zieht. Der Doktor macht kehrt und - folgt ihr fröhlich zu Tisch. Umgekehrt weiß Hannelore Risch aber auch: "Die große Dankbarkeit, so wie bei Kindern, die kriegen Sie nie von einem Dementen."
Angst vor Fremden
Dankbarkeit. Pffhhhh macht Brunhild Patzer und schließt ihre Haustür auf, nur wenige hundert Meter sind es von hier zum Pflegeheim, wo die 52-Jährige als Ergotherapeutin arbeitet. Jetzt hat sie Feierabend. "Dankbarkeit", sie dehnt das Wort wie einen Kaugummi. "Solange Sie bloß mit normalen Patienten zu tun haben, ist es leicht, die Erwartungshaltung auf null herunterzuschrauben." Was aber, wenn man wie Brunhild Patzer hautnah miterlebt, wie plötzlich die eigene Mutter Stück für Stück den Verstand verliert? "Da können Sie noch so sehr Profi sein, es ist hart, diesen Rollenwechsel zu ertragen."
Sie führt durch den Flur zu einem Anbau im Erdgeschoss, zwei Zimmer, Küche, Bad, alles rollstuhlgerecht, alles frisch renoviert, in Eigenleistung und nach Dienstschluss. Ihr Mann hatte sich Mühe gegeben, damit die alte Dame so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung leben könnte. Schon immer hatte Brunhild Patzers Mutter bei ihnen im Haus mitgelebt, allerdings in einem Zimmer unterm Dach, 20 Stufen bis zum Badezimmer, für eine gebrechliche und dazu demente Frau ein vorhersehbarer GAU.
Also bauten die Patzers um. Die alte Mutter aber hielt nichts davon. Weigerte sich, nach unten zu ziehen. "So klar im Kopf war sie damals noch", sagt die Tochter. Bis sie eines Tages wirklich stürzte. Das gebrochene Bein wird jetzt im Pflegeheim gesund gepflegt. Was danach kommt? Brunhild Patzer weiß es nicht. Mittlerweile ist der Anbau an die Enkeltocher und deren Verlobten vermietet. Und die wollen bleiben.
Die alte Dame aber bekundet täglich, schnellstmöglich wieder nach Hause zu wollen. Also muss nicht nur die Raumfrage geklärt werden, sondern auch die Betreuung. Hannelore Risch und Brunhild Patzer kennen sich. Sie schätzen sich. Sie können sich vorstellen, zu helfen und sich helfen zu lassen. Wäre da nicht die alte Mutter. Eine Fremde im Haus, die beklaue sie nur! Wofür habe sie denn eine Tochter? "Manchmal", sagt Brunhild Patzer, "haben Sie die besten Ideen und könnten trotzdem verzweifeln."
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