Pfeifen im dunklen Tunnel

Das Gallex-Experiment zur Messung der Sonnenneutrinos im italienischen Gran Sasso Massiv steht weiter auf der Kippe  ■ Von Gerd Rosenkranz

Das unter großem Mediengetöse vorbereitete europäische Sonnenneutrino-Experiment „Gallex“ tief im italienischen Gran Sasso Massiv steht weiter auf der Kippe. Mit einer gequälten „Mitteilung“ reagierte der Projektsprecher, Professor Till Kirsten vom Heidelberger Max-Planck- Institut für Kernphysik, jetzt auf Presseberichte (siehe taz vom 20. März 1991), in denen das vorzeitige Scheitern des 50-Millionen-Mark- Versuchs zur quantitativen Erfassung der Sonnenneutrinos nicht ausgeschlossen wurde.

Bei dem Experiment sollen Neutrinos von der Sonne mit den Galliumatomkernen einer 54.000 Liter umfassenden Galliumchloridlösung reagieren und diese dabei in radioaktive Germaniumatome verwandeln. Der Zerfall des Germaniums soll dann Aufschluß über die Zahl der „eingefangenen“ Neutrinos und damit über grundlegende Kernreaktionen im Sonneninneren geben. Die Reaktion der Galliumkerne mit den ladungsfreien und (praktisch) masselosen Neutrinos ist fast unvorstellbar selten: Nur etwa zehn Neutrino- Treffer in zwanzig Tagen erwarten die europäischen Wissenschaftler.

Weil die Elementarteilchen der natürlichen kosmischen Strahlung an der Erdoberfläche eine Vielzahl ähnlicher Kernreaktionen auslösen, haben sich die Kernphysiker in einen stillgelegten Tunnel 1.400 Meter unter die Erde verzogen. Mit gewaltigem Aufwand versuchen sie nun schon seit Monaten, die Galliumlösung von minimalen Verunreinigungen mit Germanium zu reinigen. Gelingt dies nicht, ist eine verläßliche Messung der winzigen Sonnenneutrino-Reaktion ausgeschlossen.

Die „Mitteilung“ aus dem Gallex- Headquarter verbirgt nur unvollkommen die Verzweiflung, die Professor Kirsten und seine Mitstreiter inzwischen offenbar ereilt hat. „Insgesamt 25 Germaniumextraktionen“ haben nämlich bislang nicht dazu geführt, daß die Germaniumverunreinigungen — sie stammen aus der Zeit, als die Galliumchloridlösung noch im sogenannten „Außentechnikum“ der kosmischen Strahlung an der Erdoberfläche ausgesetzt war — auf die für das Experiment notwendige Maß reduziert werden konnten. Die Schuld daran geben die Wissenschaftler einer oder mehreren unbekannten Germaniumverbindungen, die sich störrisch allen Auflösungsversuchen widersetzen. Versuche, durch eine Erhöhung der Temperatur der Galliumlösung die chemische Zersetzung des Störenfrieds zu beschleunigen, haben bisher nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. An die Möglichkeit, die „störenden Komponenten durch geeignete Oxidationsmittel“ loszuwerden, trauen sich die Wissenschaftler offenbar noch nicht ran. Alle derartige Versuche tragen das Risko neuer, noch größerer Probleme in sich.

Inzwischen denken die Gallex- Experimentatoren über Modifikationen nach: Die Sonnenneutrinos produzieren nämlich das Germaniumisotops Ge-71. Die Verunreinigungen — „organische Molekülkomplexe und/oder anorganische Kolloide“ — enthalten hingegen Ge-68. „Die sehr verschiedenen Halbwertzeiten und unterschiedliche Details beim radioaktiven Zerfall“ der beiden Isotope machen eine Unterscheidung grundsätzlich und mit zusätzlichem experimentellem Aufwand möglich. Bisher allerdings, gesteht Professor Kirsten, „ist die durch noch vorhandenes Ge-68 bewirkte Zählrate noch zirka zehnmal zu hoch, um keinen Einfluß mehr auf das Ge-71-Resultat zu haben“.

Umso mehr überrascht das (vorläufige) Resümee des Gallex-Projektleiters: Gestützt auf das Urteil der „kompetenten Fachwelt“ beurteile man den Fortgang des Experiments „sehr positiv“, schreibt Kirsten. Und: „Schwierigkeiten der beschriebenen Art sind bei einem so komplexen Experiment der Grundlagenforschung immer zu erwarten.“ Es klingt, wie das Pfeifen im dunklen Tunnel.