Petry Unfried: Tor für Deutschland
■ Die Nr. 1 der Charts: Wahnsinn. Warum schickst Du mich in die HölleHölleHölle?
O ja, es gibt sie, diese Momente, wenn einem die Seele erfriert. Und zwar eiskalt. Unter anderem passiert das, wenn in einem Fußballstadion die Raketen in den Abendhimmel steigen. Und sie dazu volle Wumme einen bestimmten Song einspielen. Früher wurde anläßlich jedes popligen Dorfpokalsiegs „We are the Champions“ (Queen) eingespielt. Danach wurde „Time to say goodbye“ (Bocelli) aufgelegt. Damit man es einsetzen konnte, wurden mit aller Gewalt Leute zum Abschied gedrängt. Was auch sein Gutes hatte (vgl. Henry Maske).
Ja, damals dachte man natürlich, das sei alles nicht mehr zu übertreffen. Heute ist der aktuelle und omnipräsente Nummer-1-Song der Stadion-Charts aber von Wolfgang Petry. Dieser junggebliebene „Interpret“ (D. „T.“ Heck) begann ja einst mit den ambitionierten Werken „Sommer in der Stadt“ und natürlich „Gianna (Liebe im Auto)“. Heute singt Petry „Wahnsinn“. Das wäre ganz allein seine Sache, wenn das nicht überall gespielt würde, wo einen der Beruf hinzwingt.
Der Sport und insbesondere der Fußball verleitet ja die doch etwas kalt gewordenen Menschen dazu, sich zwischendurch ein bißchen zu emotionalisieren. Das betrifft auch die Beteiligten und natürlich unsereins. Wir Sportjournalisten müssen nach den immergleichen Ereignissen jedesmal aufs neue bewegt fragen: „Haben Sie so etwas schon mal erlebt?“ Die Antwort ist natürlich (genauso bewegt): „Nein, so etwas noch nie.“
Unsereins steht also völlig aufgerüttelt im Stadion und hört „Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Hölle?“ Daraufhin schreiben wir aufgeregt in unser Büchlein: „Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Hölle?“ Es ist ein Zwang – als hätte es uns Petry, wie wir sagen, „in die Blöcke diktiert“.
Das wäre nun diesmal ganz allein unsere Sache. Wenn wir nicht am nächsten Tag einen Text zu schreiben hätten. Dann kommt diese Verszeile in den ansonsten leeren Kopf zurück. Beziehungsweise sie ist immer noch drin, weil die Hookline so teuflisch ist (“Hölle, Hölle, Hölle“).
Die schönste Assoziation hat natürlich die Bild-Zeitung geleistet, die dem Wahnsinn anläßlich des Abstiegs des 1. FC Nürnberg lauschte. In diesem Song, so berichtete der Kollege, heiße es „Wahnsinn, warum schießt du mich in die Hölle?“ So heißt es in Wahrheit natürlich nicht. Aber dann hätte der folgende, ganz besonders phantasievolle Parallelismus nicht geklappt: „Frankfurts Tor zum 5:1 – der Schuß für den Club in die Abstiegshölle.“
Das hat man selten. Wirklich. Normalerweise reicht es nur für so einen Wahnsinnsgebrauch wie gestern in der Süddeutschen Zeitung: „Und Stoiber (...) mußte mitanhören, wie sie Wolfgang Petry intonierten. Zumindest der Text paßte zum Abend: Das ist Wahnsinn.“
Ganz im Vertrauen: Unlängst kamen ein paar SportjournalistInnen von einer beruflichen Fortbildung (DFB-Spiel in Leverkusen), die natürlich „Wahnsinn“ gewesen war. Und ein Ihnen hoffentlich nicht unbekannter taz-Kolumnist aus „Fußballand“ (got it?) rezitierte permanent unter großem Gegröle das Wahnsinnszitat „Müll, Müll, Sondermüll“.
Was ist denn nun eigentlich Wahnsinn genau? Offenbar etwas, das eintritt, wenn Stefanie Graf die French Open gewinnt. Etwas, wovon Jakob Michael Reinhold Lenz 1771 schon deutlich gezeichnet war. Etwas, das bei britischen Rindviechern oder Mario Basler „jederzeit wieder ausbrechen“ (Basler) kann. Wenn es nicht schon ist.
Na, sind wir mal ehrlich. Irgendwie ist ja tatsächlich alles immer wieder aufs neue ein Wahnsinn. Wäre es keiner, brauchte man ja auch den Petry nicht ständig zu spielen.
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