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Peter Weissenburger Der WochenendkrimiBrasch will es nicht loslassen, und was ist „es“ eigentlich?

Eins ist klar an diesem Wintermorgen: Die Kommissarin ist nicht zuständig. Denn die Frau, die da im Graben an der Bundesstraße liegt, lebt noch. Wahrscheinlich angefahren. Im Koma kommt sie auf die Intensivstation. Klarer Fall fürs Unfalldezernat, keiner für die Mordkommission.

Aber Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) lässt der Fall nicht los. Oder vielmehr: Sie lässt den Fall nicht los. Denn was machte eine Frau mitten im Winter nachts zu Fuß im Nirgendwo? Und warum hat sie weder Namen noch Ausweis noch irgendwen, der nach ihr sucht?

An diesem Punkt zerbricht der Polizeiruf 110 „Widerfahrnis“ von Umut Dağ (Regie), Zora Holtfreter und Lucas Thiem (Buch) in zwei Zeit­ebenen. In der Gegenwart macht Brasch, was Kommissarinnen im Polizeiruf eben machen: Fährten verfolgen. Drei Personen haben im Leben des mysteriösen Unfallopfers zuletzt eine Rolle gespielt: eine Sexarbeiterin, ein Star­architekt, eine alleinerziehende Studentin. Keiner der drei kann – oder will – so wirklich weiterhelfen.

Wenn Brasch nicht weiterweiß, wechseln wir in die Vergangenheit. Eine alles wissende, aber nichts preisgebende Kamera folgt der unbekannten Frau in respektvollem Abstand durch die letzten Wochen vor dem Unfall. Dabei kommt es zu Wendungen, Fehldeutungen, Überraschungen. Der Krimi ähnelt einer Partie Black Stories – diesem Gesellschaftspiel, bei dem man die Indizien tröpfchenweise zu sich nimmt.

Freude haben wird, wer sich gerne die Gehirnwindungen verknoten lässt. „Widerfahrnis“ fragt nämlich nicht nur: „Wer hat es getan?“

Freude haben wird, wer sich gerne die Gehirnwindungen verknoten lässt. „Widerfahrnis“ fragt nämlich nicht nur in klassischer Krimi-Manier „Wer hat es getan?“, sondern auch „Was ist eigentlich es?“, und schließlich: „Warum wollen wir das wissen?“

Wer Krimis auf der Suche nach psychologischer Tiefe und realistischen Figuren einschaltet, könnte enttäuscht werden. Denn, wie häufig bei einer Haken schlagenden Geschichte, leidet die Glaubhaftigkeit. Die Figuren verhalten sich, wie das Drehbuch es braucht, ihre Motivationen sind schwer nachvollziehbar. Und warum möchte (und darf) Brasch tagelang ein ganzes Kommissariat der Kripo blockieren, um einen Nicht-Mordfall zu ermitteln?

Egal, denn schauspielerisch ist das reibungslos umgesetzt. Claudia Michelsen und alle Darstellenden schaffen es, die Fragezeichen in ihre Figuren zu integrieren und über die Logiklücken beherzt drüberzuspringen. Mareike Sedl beeindruckt als kaum zu greifende „Jane Doe“. Mit außergewöhnlicher Mimik und weniger als einer Handvoll Sätze liefert sie eine Figur, die berührt. Stephan Kampwirth derweil gelingt es als Star-Architekt Tamm sogar, den Archetyp „Mann mit Villa“ sympathisch zu machen.

Man kann in „Widerfahrnis“ ein Krimi-Experiment sehen, das erzählerisch nicht voll überzeugt, schauspielerisch dafür viel reinholt. Oder aber man vergisst das Genre und versteht den Film als Gedankenexperiment: Was gehört dazu, vergessen zu werden? Wer kann es verhindern?

Der Polizeiruf ist hier auf tragische Weise von der Realität eingeholt worden: Zwischen Dreh und Ausstrahlung verstarb Schauspieler Pablo Grant. Grant spielte Braschs Partner Günther Márquez. Der Film ist ihm gewidmet. Und spendet vielleicht Trost. Denn wie Brasch hier gibt es in der Realität ja Leute, die dafür sorgen, dass Menschen in Erinnerung bleiben. Auch wenn sie gar nicht dafür zuständig sind.

Polizeiruf „Widerfahrnis“, Sonntag, 4. Mai, 20.15 Uhr, ARD

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