Peter Weissenburger Der Wochenendkrimi: Wenn die perverse Realität der Pflege Gut und Böse verschwimmen lässt
Die wenigsten Filme der „Tatort“-Reihe landen in der Schublade „für die Filmgeschichte“, und das ist ja auch okay so. Weiß man erst mal, wer’s gewesen ist und warum, dann bleibt wenig Grund, sich dasselbe Werk noch einmal anzuschauen. Aber bei einigen lohnt sich dann doch ein zweites, drittes, viertes Anschauen. Das weiß die ARD und wiederholt diese Filme im Sommer zur Primetime. Diesen Sonntag den Stuttgart-„Tatort“ von 2019. Und der ist nun wirklich einer zum Wiederholen. Man könnte sagen, zum Studieren, Pausieren, Zurückspulen. Was den Film trotz Verzichts auf Action und jegliches Brimborium zu einem Mehrfachgenuss macht: der ehrliche, romantikfreie Umgang mit dem Thema Pflege, der filmische Zugang zur „Wahrheit“ – und Katharina Marie Schubert in der Hauptrolle.
Zwei ältere Menschen sterben innerhalb von zwei Wochen zu Hause bei scheinbar tragischen Unfällen. Beide Male war die mobile Pflegerin Anne (Schubert) im Dienst. Anne, die naive gute Seele, findet sich plötzlich unter dem unbarmherzigen Neonlicht eines Verhörraums wieder. Kommissare Bootz (Felix Klare) und Lannert (Richy Müller) setzen sie unter Druck. Dabei ist Anne offensichtlich unschuldig und die Polizei verrennt sich ins Vorurteil von der gierigen und rachsüchtigen Pflegerin.
Oder?
Oder spielt Anne bloß die Unschuld vom Lande? Scheint da, als die ersten Widersprüche in ihrer Geschichte auftauchen, nicht doch ein wenig Serienkillerin durch? Ja, doch, vielleicht ist die Pflege, diese undankbarste unter den Schuftereien, durchaus in der Lage, Menschen auf einen Powertrip zu schicken. Die Erschöpfung, die Unsichtbarkeit, die Verletzlichkeit, aber auch die moralische Überlegenheit und die Macht über das Leben von anderen.
Während der Haupterzählstrang vor allem im Verhörraum spielt, rekonstruieren Rückblenden das Geschehene. Doch anders als so oft im Krimi sind die Rückblenden keineswegs „aufgezeichnete“ Wiedergabe der Wahrheit. Sie sind Versionen, möglicherweise wahr, möglicherweise unvollständig. Möglicherweise gelogen.
Der Film verweigert uns als Publikum den üblichen Moment der Genugtuung: zu wissen, wer gut und wer böse ist. Und vor allem: zu wissen, was wirklich passiert ist. Dadurch zwingt er zur Auseinandersetzung mit den realen Umständen, statt mit den erfundenen Figuren. Auch wenn man sich dem gruseligen Charme von Anne dann doch nicht ganz entziehen kann.
Stuttgart-„Tatort“: „Anne und der Tod“, So., 20.15 Uhr, ARD
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