Performance-Kunst: Der Tod in Perlon-Socken
In der Bremer Schwankhalle und im Künstlerhaus am Deich beweisen Tim Etchells und sein Performance-Ensemble "forced entertainment", dass Vielschichtigkeit Plattheit voraussetzt.
Nichts stimmt. Das Saal-Licht bleibt schon mal an. Und der vermummte Mann betritt die kahle Bühne genau so, wie es SchauspielschülerInnen normalerweise spätestens im Grundlagenkurs ausgetrieben wird. Also: Ein Muster an Unentschlossenheit, stockend, gehetzter Blick noch einmal über die Schulter zurück hintern Vorhang, weiter nach vorne, bis kurz vor die erste Zuschauer-Reihe.
Da steht er dann, genau in der Mitte, das Mikro links am Rand hat er offenbar übersehen. Er kratzt die Wampe, justiert die ausgeleierte Jogginghose nach, beide sind schwarz - und in Weiß ist darauf mit grobem Strich ein Skelett gepinselt, noch plumper fast der Totenkopf überm Gesicht. Und indem er sich durchs Haarbüschel fährt, das am Hinterkopf rausragt, macht er jetzt auch noch erkennbar: Diese Maske ist ein übern Kopf gezogener dunkler Herrenslip in Übergröße. Ihm bleibt nur noch übrig, den Ausfall der Vorstellung zu verkünden. Aber das wird er nicht tun. "Normally", sagt er stattdessen, "the atmosphere is a little bit different".
Normalerweise ist die Atmosphäre ein klein wenig anders - das könnte ein Kernsatz des (ungeschriebenen) ästhetischen Programms der fast schon legendären Performance-Gruppe "forced entertainment" sein. Es ist der Beginn ihrer Vorstellung von der gescheiterten Vorstellung: "Spectacular" heißt die, am Dienstag haben die Briten sie in Bremen gezeigt, in der Schwankhalle, gestern stand "Void Story" auf dem Programm.
forced entertainment gilt als eine der einflussreichsten Theater- und Performance-Gruppen weltweit.
Sie hat ihr "Basislager" in Sheffield, Nordengland, wo sie 1984 von Tim Etchells geründet worden ist.
Seit den 1990er-Jahren gastieren und produzieren sie regelmäßig auch in Deutschland.
Ihr Haupt-Regisseur ist nach wie vor der 1962 geborene Tim Etchells, der zugleich als Bildender Künstler und als Schriftsteller arbeitet.
Das haben die Organisatoren ein Festival genannt - was ziemlich verwegen klingt. Denn: Normalerweise versteht man unter einem Festival ein bisschen was anderes. Man denkt da eher an - jedenfalls an etwas mehr doch, als nur zwei Vorstellungen und eine Ausstellung mit einer Peformance-Lecture, heute Abend im Künstlerhaus am Deich. Das ist eine 150-Quadratmeter-Galerie an der Kleinen Weser, und die Ausstellung "Fog Game" besteht auch nur aus vier Arbeiten von Tim Etchells, dem Gründer und Mastermind von "forced entertainment". Aber eben: Was für Arbeiten! Und was für Performances! Es ist ein Fest, ein echtes Fest, auch wenn dazu normalerweise Schmuck und Pomp gehören würde. Und hier ist alles so spartanisch.
Spartanisch - oder auch schlicht. Denn das ist das Risiko, das Tim Etchells Kunstwerke ebenso eingehen, wie die "forced entertainment"-Performances: Dass man sie für blöde hält. Tun wir natürlich nicht, weil wir wissen: Die haben Christoph Marthaler inspiriert und Frank Castorff und das halbe New British Theatre gleich mit. Aber kann etwas intelligent sein, das so schrecklich zugänglich, so unverrätselt, so unmittelbar einleuchtend und verständlich daherkommt? Da steht also ein Tod auf Socken und sagt, wie eine imaginäre Show - mit Blumenkübeln links und rechts am Rand, mit riesiger Show-Treppe, über deren Geländer Tänzerinnen auf die Bühne gleiten - normalerweise abgelaufen wäre. Ja und?
Oder zum Beispiel das titelgebende Werk der "Fog Game"-Ausstellung. Das ist ein siebenminütiges Video. In dem hat Etchells den Nebel am Strand in Südengland aufgezeichnet, durchschnitten nur vom Gelächter und Rufen offenbar spielender Kinder, die mitunter als dunkle Schemen eher zu erahnen sind als zu erkennen. Oder die Installation "Red Sky At Night", deren Titel die englische Version der Bauernregel "Abendrot - Gutwetterbot" zitiert: Vier Helium-gefüllte Luftballons in unterschiedlichen Farben, jeder mit einer Schnur, an der ein DIN A4-Blatt mit je einem Buchstaben hängt: "H-O-P-E", Hope, Hoffnung. Die Decke bewahrt die Ballons davor, in den Himmel zu steigen. Und am Abend wird das Gas ohnehin diffundiert sein. Da liegen sie dann darnieder. Platt.
Wirklich platt? Aber ja doch, schwebende Ballons, die Hoffnung symbolisieren sollen, sind platt. In dem Sinne, wie auch jedes Theater platt ist: Da stehen Leute auf der Bühne und tun so, als wären sie jemand anderes als sie sind. Kann man sich etwas Platteres vorstellen? Robin Arthur etwa, so heißt der Tod auf Perlon-Socken, steht da und tut so, als wäre er der Schauspieler. Robin Arthur in der Rolle des Todes, in einer Art Revue, die geplatzt ist wie ein Ballon.
Er tut so, als könnte er sich damit nicht abfinden, erzählt sie in allen ihren Einzelheiten: Die Band, der treibende Bass, die Lichtregie. Und dann kommt Claire Marshall, tritt in Straßenkleidung ans Mikro und sagt: Sie würde jetzt gerne ihre Sterbeszene machen.
Und dann legt sie los, schreit, krampft, röchelt, reißt sich gestisch die Gedärme aus dem Leib. Robin wird ihr Tipps geben, Regieanweisungen, sie kritisch evaluieren und brachial verspotten. Man versteht: Nur weil das alles mit dem Mut zur Plattitüde erdacht ist, lassen sich die Ebenen so spielerisch multiplizieren, lässt sich die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des Symbolisierens, des Denkens und des Spielens so spielerisch und so zwingend stellen: Ein Sog entsteht, dem man sich kaum entziehen kann - gerade weil doch letztlich nichts geschieht.
Das ist strapaziös, das ist anstrengend: Gerade weil nichts geschieht, gerade weil nur die Möglichkeit des szenischen Geschehens geschildert, nur durch Symbole angetippt und dann rabiat durchkreuzt wird, versetzt diese Art von Kunst ihre Betrachter und ihre Zuschauer in Aktion. Sie zwingt, mitzuarbeiten - in Gedanken. Und das ist vielleicht das größte Glück, das ein Publikum erleben kann. Normally, the atmosphere is a little bit different.
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