Parteien in der Zeitenwende : Es riecht nach Grün-Schwarz
Wirtschaft, Gesellschaft und Parteien müssen sich neu erfinden. SPD, FDP und auch Union weigern sich, weshalb die Grünen wachsen.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 28.06.22 | Die Zeitenwende, die Bundeskanzler Scholz (SPD) zum Erschrecken seiner Sozialdemokraten ausgerufen hat, beschreibt die Wirklichkeit des Lebens der Menschen hier und jetzt überall auf der Erde: Wir leben tatsächlich mitten in den Stürmen einer Zeitenwende.
Die Globalisierung, das Zusammenwachsen aller Menschen zu einer Weltgesellschaft, die Angleichung und Nivellierung ihrer Lebensweisen zu einer Weltkultur; all das ist nicht mehr umzukehren. Die Klimakrise ist nur einer der Beschleuniger dieses Prozesses. Sie fordert von allen Menschen auf der Erde, ganz gleich wo sie leben, Wandel und Neuanfang. Sie ist Belastung und Chance zugleich. Das Zusammenrücken und die Mobilität der Menschen machen aus jeder tödlichen Seuche irgendwo eine tödliche Seuche für alle. Im mehr oder weniger gut abgestimmten Anti-Seuchen-Regime erleben sich die Menschen staunend als Teil der einen leidenden Weltgesellschaft, während sie ansonsten weit davon entfernt sind, sich als eine Weltgesellschaft zu begreifen.
Dabei stellen die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Künstliche Intelligenz und das breit kommunizierte Wissen um die ökologischen Folgen jeden Schrittes alter und neuer Ressourcennutzung für die ganze Erde weltweite Handlungsbezüge her, die teilweise schon heute wie Teile einer zukünftigen Weltgesellschaft agieren.
Die Zeitenwende wird von großen Kriegen und menschengemachten Katastrophen gezeichnet sein
Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, das Greifen der chinesischen Kommunisten nach der Weltherrschaft, das Liebäugeln so vieler Teile der weltweit herrschenden Eliten mit illiberalen Herrschaftsformen auf der einen und das immer wieder nur halb entschlossene, die Gefahr relativierende Dagegenhalten der westlichen Demokratien auf der anderen Seite weisen, wie das Wetterleuchten eines gewaltigen Gewitters, darauf hin, dass auch die aktuelle Zeitenwende von großen Kriegen und menschengemachten Katastrophen gezeichnet sein wird.
Die Bewältigung der Klimakrise, der Aufbruch in die postfossile Gesellschaft und Russlands Krieg in der Ukraine als Auftakt zu vielen Kriegen um die Hegemonie der politischen Systeme, sie gehören zusammen und sind nur verschiedene Teile der Zeitenwende.
Wirtschaft, Gesellschaft und die Parteien in der Bundesrepublik müssen sich in dieser Zeitenwende neu erfinden. Die Großkonzerne aller Industrien tragen fast täglich ihren ökonomisch begründeten Willen vor, ihre gesamte Produktion in ihren nächsten Investitionszyklen zu dekarbonisieren. Ihre CEO wissen, dass sie mit der Dekarbonisierung nicht nur die Klimakrise einhegen, sondern sich selbst auf den neu entstehenden globalen Märkten für den industriellen Alltag der ökologischen Industrie von morgen aufstellen können. Sie wissen, dass sie sich auf diesem Weg aus der politischen und ökonomischen Abhängigkeit von China herauslösen und neue mächtige Handlungsfelder unter Gleichgesinnten erschließen können. Bei der Mehrheit der Bürger sind die Zumutungen des Wandels in der Zeitenwende bisher nur in Bruchstücken angekommen. Steigende Energiepreise, allgemeine Inflation, Wiederaufrüstung und Kriegsgefahr auch für die Mitte Europas signalisieren, dass – unausweichlich – härtere Zeiten bevorstehen.
SPD, CDU und FDP machen sich mit Versprechen an ein Weiterleben wie bisher unglaubwürdig
Die bundesdeutschen Traditionsparteien SPD, CDU und FDP reagieren auf diese Herausforderungen der Zeitenwende mit der verbalen Zusicherung an die Bürger, dass sich an ihrem Wohlleben trotz Klimakrise, Dekarbonisierung der Industrie und realer Kriegsgefahr nichts Grundsätzliches ändern muss. Diese Ignoranz gegenüber den temporeichen Verwerfungen der Zeitenwende, die die Bürger täglich erleben, macht diese Parteien unglaubwürdig, was zur Erosion ihrer Zustimmung im Elektorat führt.
Die SPD – Bundeskanzler Scholz regiert ja faktisch ohne seine Partei – hat wie die anderen sozialdemokratischen Parteien Europas keine zukunftversprechende Programmatik mehr. Soziale Sicherheit für möglichst viele ist schon lang kein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal mehr. Und mit einem uneinlösbaren Schutzversprechen für Arbeitsplätze in den fossilen Industrien und leerem Friedensgerede allein wird die SPD wieder bei 16 Prozent landen.
Die CDU garniert ihre „Mit-uns-sicher-weiter-wie-bisher“-Politik jetzt mit ökologischen Versatzstücken. Sie setzt auf Schwarz-Grün und öffnet damit ihre traditionelle Klientel für die Argumente der Grünen. Sie hofft so, die Reformkraft der Grünen mit konservativer Vernunftpolitik zu domestizieren, ohne ein eigenes ökologisches Zukunftsziel für die Zeitenwende entwickeln zu müssen, was aber nur den Zulauf zu den Grünen verstärken wird.
Die FDP verteidigt den Verbrennungsmotor, verhindert Tempo 130 auf den Autobahnen, will die Förderung der E-Mobilität einstellen, hat eine allgemeine Impfpflicht abgewendet und kämpft für das Weiterlaufen der Atomkraftwerke. Sie versucht, ihr politisches Überleben mit populistischen Parolen auf Kosten der Regierungsfähigkeit der Ampel zu sichern.
Die Grünen sind auf dem Weg, für die Mehrheit der Gesellschaft zur legitimen Führungspartei zu werden
SPD und FDP verlieren an politischem Rückhalt in der Bevölkerung, während die CDU wegen ihrer Öffnung zu den Grünen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig- Holstein leicht zulegt.
Währenddessen liefern die Grünen, mit Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck an der Spitze, derzeit das, was die Gesellschaft in den Gewittern der Zeitenwende braucht: politische Führung. Konkret meint das: klare Zielvorgaben und Rahmenbedingungen für eine weltweit starke deutsche und europäische dekarbonisierte Industrie. Offenes und handlungsstarkes Krisenmanagement, das die unausweichlichen Belastungen, die damit verknüpft sind relativ ungeschminkt benennt und steuert. Vertrauen schaffende realpolitische Zwischenschritte ohne die langfristigen ökologischen Ziele zu beschädigen. Konsequentes Herauslösen der Bundesrepublik aus ihren Abhängigkeiten von Diktaturen. Entschlossenheit zu militanter Selbstverteidigung.
Die Grünen bilden mit diesem Regierungsprogramm das stabile strategische Zentrum der Ampelkoalition. So sind sie auf dem Weg, für die Mehrheit der Gesellschaft und für die Wirtschaft zur legitimen Führungspartei zu werden. Weshalb der Gedanke, der Zeitgeist sei angesichts zweier neuer Landesregierungen nun Schwarz-Grün, zu kurz greift. Andersherum: Grün-Schwarz im Bund, so ungewohnt diese Machtkonstellation klingen mag, entwickelt sich womöglich gerade zur einzig mehrheitsfähigen Regierungsoption in den Gewittern der Zeitenwende.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.