Parlamentswahlen in Lettland: Der filetierte Staat
Die Wirtschaft wächst wieder, aber nur langsam. 40.000 Letten sind in den vergangenen zwei Jahren ausgewandert. Oligarchen teilen den 2,2-Millionen-Einwohner-Staat unter sich auf.
RIGA taz | Neugierig begaffen die Passanten die Kuh, die im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga unweit des Unabhängigkeitsdenkmals steht. Sie ist knapp einen Meter hoch und aus Pappe. Ihr Leib ist in unterschiedlich große Felder eingeteilt, die beschriftet sind. "Dieses Filetstück könnte Dir gehören, wenn es die Oligarchen nicht gestohlen hätten", steht auf dem Rücken.
Das Rindvieh gehört zu einem Zelt, das der Verein Delna, die lettische Filiale von Transparency International, heute hier aufgeschlagen hat. An den Gestängen hängen Plakate mit Softeis, Hamburgern und Pommes frites samt deren Inhaltsstoffen sowie dem Spruch: "Die Inhalte der politischen Parteien sind wichtig, sucht Euch das Beste aus" - ein eindringlicher Appell an die Letten, am 17. September ihr Gehirn einzuschalten.
An diesem Tag, und nur elf Monate nach dem letzten Urnengang, sind die Bürger der baltischen Republik erneut dazu aufgerufen, über ein Parlament abzustimmen. Initiator der ersten vorgezogenen Wahlen zur Saeima seit der Unabhängigkeit 1991 war der frühere Staatspräsident Valdis Zatlers. Im vergangenen Mai löste der Liberalkonservative und erklärte Kämpfer gegen Korruption die Volksvertretung auf. Er reagierte damit auf die Weigerung der Mehrheit der Abgeordneten, die Immunität des zwielichtigen Geschäftsmanns Ainars Slesers aufzuheben und so den Weg zu Ermittlungen wegen Korruption frei zu machen. Zu den Blockierern zählte auch die Partei Bündnis Grüne und Bauern, die mit in der Regierung sitzt und ein verlängerter Arm des Oligarchen und Bürgermeisters von Ventspils, Aivars Lembergs, ist.
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 17. September bewerben sich 13 Parteien bzw. Parteienbündnisse um die 100 Sitze im Parlament, der Saeima. Jüngsten Umfragen zufolge haben fünf Gruppierungen Chancen, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Dies sind die Partei Zentrum für Harmonie, die sich vor allem als Interessenvertreterin der russischen Minderheit sieht, mit 20 Prozent sowie die rechtsliberale Regierungspartei Einheit von Ministerpräsident Valdis Dombrowski, die bei 13,6 Prozent liegt. Ihr bisheriger Koalitionspartner, das Bündnis Grüne und Bauern des Oligarchen Aivars Lembergs, kommt laut Umfragen auf 8,5 Prozent, die neu gegründete Zatlers Reformpartei des früheren Staatspräsidenten Valdis Zatlers auf 11,5 Prozent. Das nationalistische Lager, die Parteien Alles für Lettland und Für Vaterland und Freiheit, dürfte mit 6,3 Prozent den Sprung ins Parlament schaffen. (bo)
Bei den Präsidentenwahlen am 2. Juni rächten sich die Volksvertreter an Zatlers und ließen ihn durchfallen. Drei Wochen später sprachen sich die Letten mit über 90 Prozent der Stimmen in einem Volksentscheid für Neuwahlen aus. Slesers ist einer jener drei steinreichen Geschäftsleute, die das Land fest im Griff haben. Sie kontrollieren die wichtigsten Medien sowie lukrative Wirtschaftszweige und sind mit Parteien verbandelt.
Aiga Grisane verteilt vor dem Delta-Stand Flugblätter. Bereits seit sieben Jahren arbeitet die 28-jährige Juristin für den Verein und kümmert sich jetzt vor allem um die Beschaffung von Geldern. "Hier", sagt sie und deutet auf zwei Listen, die an einer Leine befestigt sind. Darauf sind alle Gesetzesprojekte der vergangenen Legislaturperiode verzeichnet und welcher Abgeordnete wie gestimmt hat. Auffällig ist, dass seit der Verkündung der Auflösung der Saeima die Aktivität der Parlamentarier sprunghaft angestiegen ist.
"Monatelang wurde ein Gesetz blockiert, das Medien dazu verpflichtet, ihre Besitzverhältnisse offenzulegen. Ohne die Initiative von Zatlers wäre das auch heute noch so. Das zeigt doch, dass unsere Abgeordneten nicht den politischen Willen haben, etwas zu verändern", sagt Aiga Grisane und fügt hinzu: "Es ist verdammt hart, in diesem Land nicht korrupt zu sein, um zu überleben."
Rund 40.000 Letten haben in den vergangenen zwei Jahren ihrer Heimat den Rücken gekehrt und der Trend hält an. Einer der Hauptgründe dafür ist die nach wie vor schwierige Wirtschaftslage. Galt Lettland noch vor wenigen Jahren als "baltischer Tiger", brach die Wirtschaft 2009 komplett ein, minus 18 Prozent, der stärkste Rückgang unter allen EU-Staaten. Die konservativ-zentristische Regierung antwortete mit drakonischen Maßnahmen: In Staatsunternehmen wurden Mitarbeiter entlassen und Gehälter um 25, in Privatunternehmen um 10 Prozent gekürzt. Zudem wurden Schulen und Krankenhäuser geschlossen, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wurde verkürzt und Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr wurden gekappt.
Doch anders als etwa die leidgeprüften Griechen ertrugen die Letten stoisch die staatlich verordnete Abmagerungskur. Proteste blieben aus. Lediglich nach der Wahl des neuen Staatspräsidenten Andris Berzins, dem eine gewisse Nähe zu millionenschweren lettischen Geschäftsleuten nachgesagt wird, gingen rund 10.000 Menschen in Riga auf die Straße und verbrannten Puppen, die die drei Oligarchen symbolisierten.
Mittlerweile scheint das Schlimmste überwunden zu sein, für dieses Jahr prognostizieren Experten ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit sank von 17,3 Prozent im März vergangenen Jahres auf jetzt 12,6 Prozent. Dennoch: Mit einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 600 Euro und Renten von knapp 200 Euro bei Preisen auf Westniveau kommen viele kaum über die Runden. Vor allem dieser Umstand könnte der linksgrundierten Partei Zentrum der Harmonie zugute kommen, die bereits im vergangenen Jahr gegen den rigiden Sparkurs der Regierung zu Felde gezogen war und auch jetzt hofft, viele unzufriedene Wähler für sich mobilisieren zu können. Jüngsten Umfragen zufolge könnte sie mit knapp 19 Prozent stärkste Kraft werden. Gewählt wird die Partei vor allem von ethnischen Russen, die mit einem Bevölkerungsteil von 27 Prozent die größte Minderheit stellen.
Nach den Konflikten vor allem in den 90er Jahren hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zwar nachhaltig verbessert. Doch in Zeiten des Wahlkampfs werden die ethnischen Trennlinien wieder sichtbar, da bestimmte Parteien unterschiedliche Befindlichkeiten und Ängste gnadenlos für ihre politischen Ziele ausnutzen.
Während die Nationalisten für Schulen mit ausschließlich lettischen Curricula trommeln, werden von russischer Seite einmal wieder Forderungen nach Einführung des Russischen als zweiter Staatssprache laut. Allein die bloße Vorstellung, "Harmonie" könnnte nach den Wahlen zum ersten Mal mitregieren, erfüllt viele Letten mit Grausen, fürchten sie doch, dadurch wieder mehr unter den Einfluß Moskaus zu geraten.
Genau an diesem Punkt setzt Viktors Makarovs an. Der 38jährige Politikwissenschaftler will jetzt die Theorie gegen die Praxis tauschen. Er kandidiert für die "Zatlers Reformpartei", die der abgewählte Staatschef erst im Juni gründete und die Demoskopen mit 12 Prozent der Stimmen handeln. "Anstatt Ängste zu schüren und zu instrumentalisieren, müssen wir sie ernst nehmen und etwas dagegen setzen", sagt er. Konkret bedeutet das: allen nach 1991 geborenen Kindern russischer Eltern automatisch die lettische Staatsbürgerschaft anzubieten. Und denjenigen, die älter sind, die Einbürgerung zu erleichtern. Noch immer sind 14 Prozent der Russen in Lettland keine Staatsbürger des Landes, weil sie nicht den dafür erforderlichen Sprach- und Geschichtstest mit Erfolg hinter sich gebracht haben. Eine fehlende Staatsbürgerschaft bedeutet unfreiwillige Abstinenz bei Wahlen und Abstimmungen sowie den Ausschluß von bestimmten Posten und Ämtern - was besonderen Unmut stiftet.
Doch ethnische Zwistigkeiten sind nur eine Baustelle, auf der Sattlers neue Truppe aufräumen will. Vor allem geht es darum, die Macht der Oligarchen zu brechen. Endlich Schluß zu machen mit der Privatisierung des Staates durch kriminelle Netzwerke ausschließlich zu deren Gunsten. "Die Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren. Wir müssen dafür sorgen, dass sie es wieder gewinnen", sagt Viktors Makarovs.
Vertrauen in die Politik hatte Andris Vitols noch nie, wenngleich er Sattlers Partei, deren Kandidaten allesamt Politikneulinge sind, einiges abgewinnen kann. Der 45jährige ist Direktor von Dailes Teatris, eines der größten Theater in Riga "Endlich einmal neue Gesichter, vielleicht ist das ein gutes Omen. Die alten Politiker, die kennen doch die Realität gar nicht", sagt er. Auch Vitols und seine Mitarbeiter haben die Folgen der Wirtschaftkrise schmerzhaft zu spüren bekommen. Vor drei Jahren reduzierte der Staat die Zuwendungen für das Haus um 50 Prozent. Die Folge: Gehaltskürzungen um 20 Prozent bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitszeiten um ein Drittel. "Die Scheiben haben mir meine Leute trotzdem nicht eingeschlagen", sagt Vitols und grinst. Er intensivierte die Suche nach Sponsoren und vermietet das Theater jetzt häufiger an andere Ensembles. Statt 370 Aufführungen im Jahr 2008 hat das Theater heute 493 Veranstaltungen auf dem Spielplan. 86 Prozent der Plätze in den Sälen, von denen der größte 1000 Zuschauer fasst, sind immer besetzt. "Die Menschen müssen sparen, aber ins Theater gehen sie trotzdem. Eine alte Angewohnheit von früher", sagt Vitols. Für dieses Jahr hat das Kulturministerium seine Subventionen wieder ein wenig aufgestockt - für Vitols ein untrügliches Zeichen dafür, dass es langsam wieder aufwärts geht. Doch auch wenn spürbare Verbesserungen erst einmal noch auf sich warten lassen - "wir arbeiten einfach weiter", sagt Vitols. "Schlimmer als zu Sowjetzeiten wird es schon nicht werden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen