Parlamentswahl in Norwegen: Plötzlich wieder ganz vorne dabei
Die sozialdemokratische Arbeiterpartei, lange im Umfragetief, liegt in der Wählergunst auf Platz zwei. Premier Støre könnte sogar im Amt bleiben.

Es seien regionale Biomöhren, erklärt Hermstad. Und zwar genau 1721 Stück – was schon nicht mehr ganz stimmt, seine Wahlkampf-Requisiten sind neugierigen Passanten ein willkommener Snack, sie dürfen sich bedienen. 1721 Möhren, sagt Hermstad, die stünden für die 1721 Stimmen, die den Grünen bei der letzten Parlamentswahl 2021 fehlten, um über die Vier-Prozent-Hürde zu kommen.
Diese Hürde, sie ist nicht wie in anderen Ländern. Auch mit weniger als vier Prozent Stimmenanteil sind die Grünen im Parlament vertreten. Diese Besonderheit des Wahlsystems hat großen Einfluss auf die Politik des 5,6-Millionen-Einwohner-Landes.
150 der 169 Parlamentssitze werden in Norwegen mit Direktmandaten aus 19 Regionen besetzt. Die Grünen, als Beispiel, hatten zuletzt drei Sitze aus der Metropolregion Oslo/Akershus. Mit zusätzlichen Stimmen im Umfang einer Schubkarre voller Möhren könnten es aber doppelt so viele sein: Ab vier Prozent gibt es Anspruch auf einige der 19 Ausgleichsmandate. Die großen Parteien wären über ihre Direktmandate im Verhältnis zum Wahlergebnis sonst überrepräsentiert.
Wichtige grüne Botschaft
Helft uns über die Vier-Prozent-Hürde, dann verhindert ihr Sylvi Listhaug als Ministerpräsidentin: Das ist eine wichtige Grünen-Botschaft in diesem Wahlkampf. Listhaug will als erste Politikerin der rechtspopulistischen Fortschrittspartei (Frp) eine norwegische Regierung anführen. Nicht nur Parteien des linken Spektrums wollen das verhindern.
Auch auf der sogenannten bürgerlichen Seite, zu der sie gezählt wird, ist Listhaug umstritten – die konservative Høyre hat mit der früheren Ministerpräsidentin Erna Solberg eigentlich die beliebtere Kandidatin. Ihr Problem jedoch ist der rasante Aufstieg der Fortschrittspartei – allein Høyre hat 100.000 Wähler an sie verloren, Frp ist in der Wählergunst nach der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Ap) die zweitstärkste Kraft.
Zur Regierungsbildung braucht es keine absolute Mehrheit, der Bruch einer Koalition hat in Norwegen keine Neuwahlen zur Folge. Gewählt wird hier alle vier Jahre, Punkt. Minderheitsregierungen und Regierungsumbildungen in der laufenden Legislaturperiode haben eine lange Tradition. Die amtierende Regierung von Ap-Ministerpräsident Jonas Gahr Støre hat nur 48 der 169 Sitze im Parlament. Selbst vor dem Aus seiner Koalition mit der Zentrumspartei im Januar waren es nur 76.
Mehrheiten für eigene politische Vorhaben müssen immer neu gesucht und verhandelt werden, auch ohne Ministerien können Parteien mitgestalten. „Dank euch konnten wir den Grubenbetrieb am Meeresgrund stoppen“, damit warb etwa die Vorsitzende der Sozialistischen Linkspartei (SV) Kirsti Bergstø um Stimmen, als sie sich am Dienstag bei der letzten TV-Debatte direkt an bisherige und potenziell neue Wählende richtete. Die für den Haushalt nötige Mehrheit hatte die Regierung im Dezember nur unter der SV-Bedingung zusammenbekommen, dass das umstrittene Projekt Tiefseebergbau ausgesetzt werde.
Gewöhnliche Leute
Norwegen starrt also am Wahlabend nicht aufgeregt auf mögliche Koalitionen mit absoluter Mehrheit. Die entscheidende Frage ist: Welche Seite hat die meisten Sitze – Mitte-rechts oder Mitte-links? Der Grünen-Kandidat Hermstad beschrieb es in der TV-Debatte so: „Wir haben die Wahl zwischen einem graueren, kälteren und polarisierenderen Norwegen unter Sylvi Listhaug und einem grüneren, wärmeren, smarteren und solidarischeren Kurs unter Jonas Gahr Støre.“
Listhaug wiederum wandte sich an die „gewöhnlichen Leute“, die seien nun an der Reihe, das habe doch Støre vor vier Jahren versprochen. „Und, hast du das Gefühl, dass du an der Reihe bist? Ist der Hauskredit billiger, sind es die Lebensmittel, der Diesel?“, fragte sie in die Kamera.
Ihre Hauptbotschaft: Die Fortschrittspartei werde Schluss machen mit der Verschwendung von Steuergeldern für grüne Industrie, Entwicklungshilfe und Bürokratie. Stattdessen solle es eine bessere Versorgung von Älteren und Schulen, mehr Polizei und mehr Verteidigung geben.
Die letzte große Umfrage des Norwegischen Rundfunks NRK sieht einen leichten Vorteil auf der linken Seite mit ihrem Spektrum von Zentrum über sozialdemokratisch, grün bis zur ganz linken Rødt. Vor einem Jahr galt das noch als undenkbar. Doch nun könnte Støre möglicherweise im Amt bleiben mit seiner Ein-Parteien-Minderheitsregierung, unterstützt von einer leichten links-grünen Mehrheit im Parlament. Dabei waren die Konservativen lange siegesgewiss gewesen.
Drei Jahre im Umfragetief
Wie konnte der Wahlkampf nun so spannend werden? Eirik Mosveen von Zeitung Avisa Oslo verfolgt als Journalist seit Jahrzehnten Wahlkämpfe in seiner Heimat. Die Art von Trendwende, wie die Arbeiterpartei sie nach drei Jahren im Umfragetief hinlegte, so etwas habe er noch nicht gesehen, erzählt Mosveen einer Gruppe deutscher Journalisten im Osloer Verlagshaus Amedia.
Der Bruch der glücklosen Koalition mit der Zentrumspartei (Sp) Anfang des Jahres und die darauf folgende Rückkehr von Jens Stoltenberg in die norwegische Politik gelten als Auslöser des Comebacks. Mosveen meint, Støre sei wie ausgewechselt im Team mit dem ehemaligen Nato-Generalsekretär, den er überraschend als Finanzminister holte. Plötzlich wirke Støre wie ein kompetenter Politiker. Jetzt lächeln die beiden auf Wahlplakaten gemeinsam und versprechen eine sichere Zukunft für das Land.
Støres Beliebtheit hatte stark gelitten, als die Menschen in Norwegen sich plötzlich mit ungewohnt hohen Strompreisen konfrontiert sahen – auf die Sorgen einzugehen, hatte die damals frisch gewählte Regierung verpasst. Norwegen ist durch das EWR-Abkommen längst eng an den europäischen Strommarkt gebunden. Die Folgen für die Strompreisentwicklung zu Hause bleiben ein heißes Eisen.
Was aus unterschiedlichen Gründen kein heißes Eisen in diesem Wahlkampf ist, erklärt der norwegische Wahlforscher Johannes Bergh: Der Ukraine-Krieg, eine mögliche EU-Mitgliedschaft, Klima. In Sachen Ukraine-Unterstützung etwa herrsche ein grundlegender Konsens, mit Nuancen in der Ausformung. Gesundheit, Ausbildung, wachsende Jugend-Kriminalität, teure Lebenshaltungskosten: Es seien Themen, die näher am Alltag der Menschen sind, die die Wahl entscheiden.
Unpopuläre Folgen
Eine neue, das Land weitgehend einigende Sorge sei die erlebte Unsicherheit angesichts eines US-Präsidenten Donald Trump. Nicht zuletzt deshalb hält Støre an den unpopulären Folgen der engen Bindung an die EU fest: Norwegen brauche seine Verbündeten gerade jetzt.
Überraschungs-Topthema des Wahlkampfs war die Vermögenssteuer und ihre mögliche Abschaffung – von der rechten Seite als nötiger Anreiz für Investoren propagiert und auf Social Media vor allem von jungen konservativen Männern emotional aufgegriffen. Von der linken Seite wird die Idee als unnötige Steuererleichterung für Norwegens Superreiche verworfen.
Bis Mittwoch dieser Woche hatten laut der norwegischen Wahlbehörde bereits gut ein Drittel der Wahlberechtigten, 1,379 Millionen Menschen, ihre Stimme abgegeben. Sie können das quasi auf dem Weg zum Einkaufen erledigen – Wahlkabinen stehen seit dem 11. August in Einkaufszentren und an vielen anderen öffentlichen Plätzen. Wahlforscher Bergh sieht den noch neuen Trend zur Vorabwahl als schwierig für manche Parteien an, der Wahlkampf werde dadurch verkürzt.
In einem Café in der ostnorwegischen Stadt Hønefoss äußert sich zehn Tage vor der Wahl genau darüber eine Gruppe befreundeter älterer Damen zufrieden: Sie hätten bereits gewählt, jetzt bräuchten sie sich das ganze Gerede nicht mehr anzuhören. Wie es ausgeht, darauf sind sie genauso gespannt wie der Rest des Landes.
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