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Paris im Mai 1968Wüten im Sensiblen

Tania Martini
Kommentar von Tania Martini

Auch in Frankreich gibt es Deutungskämpfe um 1968. Da kommt ein Buch des französischen Philosophen Claude Lefort gerade recht.

Polizeieinsatz gegen Studenten, Paris 1968. Bild: ap

C laude Lefort war 1968 Mitte vierzig. Seit den Vierzigerjahren hatte er in Zeitschriften wie Socialisme ou Barbarie als einer der ersten französischen Linksintellektuellen die Führungsrolle der Kommunistischen Partei in Zweifel gezogen und immer wieder einen vehementen Antistalinismus formuliert. In Frankreich zählt der Schüler und Weggefährte Maurice Merleau-Pontys mit seinen Studien zum Totalitarismus zu den ganz großen Philosophen. An der Sorbonne und der prestigeträchtigen Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales lehrte er politische Philosophie.

Von ihm sind nun, in die historisierende Publikationsschwemme zu 68 hinein, zwei Aufsätze erschienen. Es handelt sich um Vergegenwärtigungen eines Beteiligten, der die Ereignisse noch einmal zum Sprechen bringt. Zusammengefasst in dem Band "Die Bresche" liegen erstmals in deutscher Übersetzung der unmittelbar nach den Pariser Mai-Ereignissen geschriebene Aufsatz "Die neue Unordnung" sowie der 20 Jahre später entstandene Essay "Relektüre" vor.

Die überraschenden Mai-Ereignisse waren in Frankreich mehr als in jedem anderen Land von einer breiten gesellschaftlichen Koalition getragen. Zehn Millionen Arbeiter und Angestellte streikten, Studenten besetzten Universitäten im ganzen Land, in Paris brannten die Barrikaden und Charles de Gaulle beriet sich in Deutschland mit dem Chef der 5. Französischen Armee über die Niederschlagung des Aufstands.

Lefort zeigt die Bresche, die Revoltierende in die Institutionen und Verhaltensmuster, in die Ordnung der Dinge hineinschlugen. Besonders unter den so genannten Enragés von Nanterre entdeckte er eine neue Sprache und einen neuen Handlungsstil, der, "was der Domäne der reinen Theorie angehörte, wieder in das Register des Empfindens" zurückführte. Vor allem anderen geht es ihm um den vollzogenen Bruch mit einer Politik, die auf Repräsentation durch Parteien beruhte. Lefort blendet dabei die anderen Teile der Bewegung, die eine gänzlich andere Sprache sprachen und etwa die Politik der reinen Revolutionsrhetorik opferten, nicht aus. Er hebt immer wieder das Singuläre der Revolte hervor: Politik in der unmittelbaren Welt, in der man lebt, zu entziffern.

20 Jahre danach muss er in seiner "Relektüre" nichts von der Würdigung der Ereignisse zurücknehmen. Lefort führt in seiner Schrift immer wieder das Überraschende an 68 vor Augen. War doch die französische Gesellschaft, nicht minder als die deutsche, längst in der sozialpartnerschaftlichen Befriedung angelangt. Die Wirtschaft boomte nach dem langen Nachkriegsaufschwung noch immer und die Konsumgesellschaft bescherte der Arbeiterschaft eine gesicherte materielle Existenz. Nach Lefort ist 68 ein Ereignis, das für die Unbestimmbarkeit der modernen Politik steht. Und ein Beweis dafür, dass Revolten nicht immer durch Krisen ausgelöst werden. Nicht durch ökonomische, nicht durch politische.

Das Zeitdokument Leforts besticht durch seinen selbstaufklärerischen Impuls, den fortzusetzen auch in der hiesigen Diskussion um 1968 lohnenswert wäre. Hierzulande sind im Jubiläumsjahr jedoch die Grenzziehungen zwischen Diskutierbarem und Verworfenem radikaler denn je. Wortführend und durchsetzungsfähig erweisen sich in einem nicht selten als Abrechnung aufgeführten Spektakel diejenigen, die 1968 und danach die Bewegung in autoritär strukturierte Gruppen verengten.

Selbstreflexivität ist in diesem Zusammenhang notwendig, sie muss die ideologischen Denkverbote, die es innerhalb der Protestbewegung gab, benennen. Aber ebenjene Reflexivität muss auch auf das einst Erschlossene verweisen, um es in einer Praxis demokratischer Veränderung fortschreiben zu können: beispielsweise auf die Einübung in eine neue Diskursivität oder auf Aspekte einer veränderten Alltagskultur seit den Protestbewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre. Hierfür sind die Aufsätze des französischen Philosophen eine äußerst nützliche Lektüre.

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Tania Martini
Politisches Buch/Kultur
Redakteurin für das Politische Buch und Diskurs im Kulturressort. Mitherausgeberin des Buches "Nach dem 7. Oktober. Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen (Edition Tiamat). Jurorin des Deutschen Sachbuchpreises 2020-2022 sowie der monatlichen Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandradio. Lehraufträge in Kulturwissenschaften und Philosophie. Von 2012 bis 2018 Mitglied im Vorstand der taz. Moderiert (theorie-)politische Veranstaltungen. Bevor sie zur taz kam: Studium der Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse in Frankfurt/Main; Redakteurin und Lektorin in Wien.

3 Kommentare

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  • CR
    Christine Reuss

    Wer Claude Lefort gelesen hat wird feststellen, dass die Komplexität seiner Reflexionen in einem kurzen Artikel kaum "klarer" dargestellt werden kann, ohne diese mutwillig zu beschneiden. Danke daher für diesen Artikel, der eine Erweiterung des Diskurshorizontes erhoffen lässt.

  • B
    Brigitte

    Ich finde den Artikel unlesbar - schwafelig und unklar geschrieben.

  • TW
    Thomas Wiegand

    Wieso wird in der Buchbesprechung denn behauptet, dass sich Charles de Gaulle im Jahr 1968 bei seinem Kurzbesuch in Baden-Baden über die Möglichkeit einer militärischen Niederschlagung der Mai-Unruhen beraten habe? Wird hier ein anti-gaullistischer Mythos fabriziert, oder gibt es für diese Behauptung tatsächlich eine historische Quelle?

    Letzteres wäre mir vollkommen neu.

    Fest steht einstweilen nämlich nur, dass Charles de Gaulle im darauffolgenden Jahr 1969 umgehend vom Amt des Staatspräsidenten zurücktrat, als ein von ihm unterbreiteter Vorschlag zur Reform der Regionalverwaltung in einem französischen Referendum bei den Bürgern keine Mehrheit fand. Das spricht nun nicht gerade für die Absicht Charles de Gaulles, sich über den politischen Willen der eigenen Bürger hinwegzusetzen.

    Und schon gar nicht hatte de Gaulle diese Absicht dann, wenn dieser Wille in einer demokratischen Abstimmung mit klarer Mehrheit von den Bürgern bekundet wurde. Bei der französischen Alt-68er-Ikone Daniel Cohn-Bendit verhält es sich bekanntlich umgekehrt. Der Frankfurter Grüne wirbt ebenso wie Joschka Fischer derzeit vehement dafür, dass die Regierungen aller EU-Staaten sich über die in drei Ländern (Frankreich, Niederlande und Irland) in Referenden bekundete Ablehnung des Inhalts des Lissaboner Vertrags ganz einfach hinwegsetzen sollten.

    Statt nun aber Cohn-Bendit und Fischer eine demokratisch überaus fragwürdige Haltung vorzuwerfen, macht die 'taz' hier das Gegenteil: sie setzt ohne erkennbare Beweise ausgerechnet Charles de Gaulle dem Verdacht diktatorischer Methoden aus. Ausgerechnet dem Mann, der sich im Gegensatz zu vielen anderen Franzosen zwar niemals Hitler beugte, wohl aber größten Respekt vor dem demokratisch bekundeten Willen der Bürger besaß. Es tut mir leid, aber da stimmt doch etwas mit der Wahrnehmung nicht!