: Paranoia im Provinzhotel
Da verliebt sich einer in den Tod und bemerkt es selbst gar nicht:Gert Loschütz schickt einen genervten Kulturredakteur in einen Selbstmörderwald – der Roman „Die Bedrohung“
von MAJA RETTIG
Gert Loschütz legt schnell nach. Vergangenen Herbst erst war nach langer Pause sein Roman „Dunkle Gesellschaft“ erschienen, diesen Herbst kommt schon der nächste des 60-Jährigen heraus. „Die Bedrohung“ ist dabei eine subtile Radikalisierung des vorigen Textes. In beiden geht es um eine mögliche existenzielle Bedrohung durch dunkle Mächte. Verkürzt gesagt: Hier lauert etwas in einem Wald; dort treibt es finster auf Flüssen vorüber.
Während sich aber das Unheil der „Dunklen Gesellschaft“ in einer lockeren Reihung greller, grotesker, komisch-schauriger Szenen zeigt und versteckt, verzichtet Loschütz in seinem aktuellen Roman auf die fantastischen Mittel, die er so sicher beherrscht. „Die Bedrohung“ ergibt sich erst aus dem Gesamtbogen der viel karger erzählten Geschichte; sie wirkt umso nachhaltiger, als sie mitten in die Realität gepflanzt ist. Da verliebt sich einer in den Tod, ohne es zu merken. Von diesem Buch können einem Gewissheiten vergehen.
Dabei ist der Ausgangspunkt der Handlung sofort nachvollziehbar: Dem Kulturredakteur einer bedeutenden Zeitung, Matthias Loose, geht das Getue in der Redaktion und im ganzen Kulturbetrieb auf die Nerven. Er kündigt und will als freier Autor arbeiten – endlich die vier bis fünf etwa buchdicken Essays schreiben, zu denen er seit Jahren Material sammelt. Aber er verzettelt sich. Die Ideen und die Textanfänge mehren sich; fertig schreibt er nichts.
In dieser Lage kommt eine Einladung zur Tagung der Botanischen Gesellschaft. Loose soll „Formulierungshilfe“ leisten, was ihn nicht interessiert. Er fährt nur deshalb doch an den Tagungsort, weil dort auch der Schauplatz eines neuen ihn fesselnden Themas ist – ein Wald, in dem sich Selbstmorde häufen, laut einer Meldung in der Rubrik „Aus aller Welt“. Von überall her kämen Leute, um dort zu sterben. Loose will der Sache auf den Grund gehen.
Er stößt auf Geheimnisse. Die Einheimischen wiegeln nur ab; Loose addiert für sich die Unstimmigkeiten. Ist das Misstrauen der Leute nicht merkwürdig, wenn er sich dem Wald nähert? War es nicht „Leichenfänger“, was die Kinder des Dorfes einem Mann hinterherriefen, und keinesfalls „Eichenfäller“ oder „Weichensteller“? Loose ist einer „Todeszone mitten im Land“ auf der Spur.
Er kauft sich ein Diktiergerät, das er heimlich in der Tasche mitlaufen lässt. Die Verschwörung wird immer umfassender. „Ich bin überzeugt davon, dass von diesem Ort eine Bedrohung ausgeht, und ich bin sicher, dass sie es auch wissen. […] Sie? Alle hier.“ Wo beginnt der Wahn? Dem Text gelingt es glänzend, diese Grenze zu verwischen, daher die starke Beunruhigung, die von ihm ausgeht. Ist in der Welt was faul oder im Kopf? Verschwörung oder Paranoia? Loose bleibt länger und immer länger in dem einsamen Provinzhotel, die Botanische Gesellschaft ist längst abgereist. Als er das Zimmer nicht mehr bezahlen kann, wird er in seltsamer Selbstverständlichkeit Hoteldiener. Er versteckt sich vor seiner Frau, die ihm alarmiert nachreist. Als sie sich per Brief von ihm trennt, bleibt er merkwürdig gleichgültig. Das Angebot der Botanischen Gesellschaft, Leiter einer Zeitschrift zu werden, schlägt er aus. Jeden Notausgang zur Welt schlägt er aus, weil „sie“ dann gewonnen hätten.
Viele Episoden lesen sich aber auch vernünftig. Einzelne Dorfbewohner widersprechen sich nachweislich, und das Bedürfnis, jetzt einmal eine Arbeit zu Ende zu bringen, ist auch verständlich. Looses Anfänge sind unser aller Ringen mit dem inneren Schweinehund und dem gelegentlichen Impuls, uns zurückzuziehen von der Dummheit und Eitelkeit der Welt. Seine Frau sagt, er solle mal wieder unter die Leute, und er denkt: „Aber warum eigentlich? Ich hatte ein Gefühl für die Zeit entwickelt (die einem in kleinen Portionen gestohlen wurde) und beschlossen, mir von keinem mehr auch nur eine Stunde wegnehmen zu lassen.“
Und folgt das feuilletonistische, essayistische, das kulturelle Denken nicht im Ansatz dem gleichen Prinzip wie die Paranoia – im Herstellen von Zusammenhängen? In der Paranoia ist dann Beliebiges wie zwangsläufig miteinander verbunden. Gegen Anfang hat Loose vor, einen Essay über „Wunschsehen“ zu schreiben – es soll dabei um kurze Momente der Täuschung gehen. Täuschung und Realität existieren also noch. Für den späteren Loose ist Zufall ein Umstand, „für den die Erklärung noch aussteht […]. Zufall ist die Erklärung der Denkfaulen.“ Nein, man kann den Punkt nicht ausmachen, an dem Loose beginnt zu kippen. Lange erscheinen die Speichellecker der Botanischen Gesellschaft, das Hotel, das angrenzende Dorf und seine Bewohner als Nebenfiguren, Nebenschauplätze, Zwischenepisoden. Erst im Nachhinein fügt sich alles zu den Umständen seiner Vernichtung. Die Beklemmung ist dann groß. Loose, er sieht es schließlich ein, muss selbst in den Wald gehen. Für letzte Gewissheit.
Gert Loschütz: „Die Bedrohung“. FrankfurterVerlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006, 192 Seiten, 19,90 Euro