Pannenreaktoren der Atomindustrie: Zeitdruck beim Poker um Laufzeit
Bei einem Gespräch im Kanzleramt haben sich die Energiekonzerne für längere Laufzeiten ihrer alten Reaktoren eingesetzt. Doch diese fallen durch eine hohe Zahl von Störfällen auf.
Für die Atombetreiber wird die Zeit knapp: Bis Oktober will sich die Bundesregierung Zeit lassen für ihr Energiekonzept, in dem auch die Zukunft der Atomkraft geklärt werden soll. Doch das AKW Neckarwestheim 1 darf nach derzeitiger Rechtslage nur noch 77 Tage am Netz bleiben. Das ist - wenn auch seit dem Regierungswechsel ziemlich versteckt - noch immer auf der Internetseite des Bundesumweltministeriums zu lesen, wo ein "Ausstiegszähler" rückwärts läuft.
Schon Anfang April wäre demnach das im Atomkonsens festgelegte Stromkontingent für diesen Reaktor aufgebraucht und seine Betriebsgenehmigung erlischt endgültig. Der älteste deutsche Reaktor, Biblis A, steht unter dem Vorwand von Wartungsarbeiten schon seit fast einem Jahr still, um ein Aufbrauchen der Reststrommenge zu verhindern.
Aus diesem Grund sind die Chefs der vier Stromkonzerne an diesem Donnerstag ins Kanzleramt eingeladen, um mit Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) über die Zukunft ihrer Reaktoren zu verhandeln. Schon im Vorfeld des Gipfels machen sie Druck: Es wäre "politisch nicht verantwortbar", wenn vor einer Einigung über künftige Laufzeiten bereits die ersten AKWs stillgelegt werden müssten, erklärte etwa Eon-Chef Wulf Bernotat. Auch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) drängt auf schnelle Entscheidungen.
Als Lösung für das akute Problem in Neckarwestheim würde der Betreiber EnBW am liebsten Strommengen von dem jüngeren Reaktor Neckarwestheim 2 auf den älteren Neckarwestheim 1 übertragen, damit dieser weiterlaufen darf. Bereits im Dezember 2006 hatte die EnBW den Antrag gestellt, 46,9 Terawattstunden übertragen zu dürfen.
Das seinerzeit noch SPD-geführte Umweltministerium lehnte dies nach einer umfangreichen vergleichenden Analyse der Sicherheitstechnik jedoch ab - denn Block 1, der im Mai 1976 in Betrieb ging, zeigte sich an vielen Punkten deutlich unsicherer als Block 2, der mehr als 12 Jahre jünger ist. Auch in der Praxis zeigt sich deutlich, dass mit dem Alter der Meiler die Häufigkeit von Störfällen steigt: Während nach Erhebungen des Bundesamts für Strahlenschutz der jüngere Block 2 in Neckarwestheim seit Betriebsbeginn im Mittel auf vier meldepflichtige Ereignisse pro Jahr kam, wurden im Block 1 im Schnitt jährlich 13 solcher Ereignisse verzeichnet.
Nur der Meiler Brunsbüttel, der nicht ohne Grund seit 2007 abgeschaltet ist, ist mit 14 Ereignissen noch störanfälliger. Auch bei den meldepflichtigen Reaktorschnellabschaltungen liegt Block 1 in Neckarwestheim mit 1,2 pro Jahr deutlich vor dem erheblich jüngeren Block 2 mit 0,3 Abschaltungen jährlich.
Diese Statistik setzt die Regierung nun unter Druck, denn sie hatte immer betont, eine Laufzeitverlängerung auf Kosten der Sicherheit werde es nicht geben. Spannend wird daher die Frage, wie ernst das Bundesumweltministerium nun sein eigenes 100-seitiges Papier vom Juni 2008 nimmt, in dem es die gravierenden Unterschiede beim Sicherheitsniveau der beiden Neckarwestheim-Reaktoren darlegt.
Franz Untersteller, der energiepolitische Sprecher der Grünen im baden-württembergischen Landtag, fürchtet seitens des BMU bereits eine "Rolle rückwärts hin zu einer völlig neuen Rechtsposition". Allerdings sei nicht erkennbar, wie das Ministerium diese begründen will: "Dass die Hausspitze der obersten Atomaufsichtsbehörde gewechselt hat, kann in einem Rechtsstaat wohl kaum als Begründung dafür ausreichen, um die vor anderthalb Jahren in einem Rechtsbescheid dargelegten Sicherheitsbedenken jetzt plötzlich zu negieren."
Wie der zuständige Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sich die Zukunft der kurz vor der Abschaltung stehenden Pannen-Reaktoren vorstellt, bleibt offen. Röttgen hat es bisher abgelehnt, sich zu einzelnen AKWs zu äußern, bevor das Gesamtkonzept vorliegt. Und beim Gespräch im Kanzleramt am Donnerstag wird er nicht dabei sein.
Anders die Atomkraftgegner: Sie dürfen zwar ebenfalls nicht ins Kanzleramt. Doch während drinnen verhandelt wird, werden sie wenigstens vor dem Gebäude gegen den "Tanz in den Atomtod" protestieren.
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