berliner szenen: Pankow ist mehr Dorf denn je
Als Vorleserin fühle ich mich ja zurzeit etwas irrelevant. Alle Lesungen abgesagt, das Kind klatscht auch nicht, wenn ich vorlese. Aber gestern trafen wir den Postboten. Er bremste sein gelbes Rad zwei Meter vor uns. Ich hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. „Frau Streisand, jetzt muss ich Sie mal ansprechen: Danke für jeden Montagmorgen auf radioeins! Ich les grade ihr neues Buch ‚Bötzow, Ecke Hufeland‘. So toll! Bleiben Sie schön gesund.“
Mein Zweijähriger grüßt mittlerweile jeden auf der Straße mit „Hallo!“ Wie Bergwanderer in den Alpen, die nur alle paar Stunden einer Menschenseele begegnen und nie wissen, ob es vielleicht ihr letzter sozialer Kontakt vor dem Absturz ist. Wenn wir andere Passanten treffen, laufen wir Bogen umeinander. Wie gegensätzlich gepolte Magneten. Oder wie Tänzer*innen der Renaissance. Pankow ist mehr Dorf denn je. Jeder Morgen ist wie Wochenende. Wer kann, schläft länger. Abends um zehn, wenn ich schlafen gehe, ist dagegen die gesamte Fensterfront im Hinterhaus erleuchtet. Das Kind und ich verbringen Stunden mit Bagger gucken, Meisen beobachten und Rampen vor verlassenen Geschäften hoch und runter rennen.
Eine Frau erzählt, dass ihr Vermieter ihr die Miete für ihren Laden erlassen habe. Dan vom Fahrradladen empört sich über einen Jugendlichen, der gestern im Laden war. „Drängelt sich rein, obwohl da zwei Omis drinstehen, und will dann als Einziger von mir, dass ich das Touch-Pad vom Kartenlesengerät desinfiziere, bevor er seine Nummer reintippt. ‚Weeßte watt‘, hab ick jesacht, ‚komm, lass bleiben. Ick storniere ditt. Geh einfach wieder nach Hause.‘ Rücksichtslose kleene Kackbratze.“
„Reg dich nicht auf, Dan!“, mahne ich. Er schlägt die Hand vor den Mund. „Hab ick dich jetzt angespuckt?“ Lea Streisand
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